Himmelsdiebe
wie ein Christbaum, als er sich zu Harry herumdrehte. »Na, da können Sie sich auf was gefasst machen! Glauben Sie ja nicht, nur Ihr Deutschen wüsstet, wie ein KZ funktioniert.«
4
»Weißt du, wo das is t – Les Milles?«, fragte Laura.
»Keine Ahnung«, sagte Lulu. »Aber schauen wir mal nach.«
Während die Patronne eine alte Landkarte auf dem Schanktisch ausbreitete, nahm Laura einen Schluck Wein. Es war noch so früh am Morgen, dass sie der einzige Gast im Hôtel des Touristes war. Pepe hatte ihr den Brief mit der Nachricht von Harry gebrach t – seit sie allein in dem Haus lebte, händigte er ihr wieder die Post persönlich aus. Der Brief war von einer Behörde in Marseille. Kaum hatte Laura die Zeilen gelesen, hatte sie alles liegen und stehen gelassen und war ins Dorf gelaufen. Sie musste mit irgendeinem Menschen spreche n – die Nachricht war das erste Lebenszeichen von Harry, seit die Soldaten ihn verschleppt hatten! Lulu hatte ihr ein Glas Wein eingeschenkt. Der Alkohol tat gut. Zu Hause trank Laura keinen Wei n – den Wein, den sie mit Harry gekeltert hatte, wollte sie nur mit Harry trinken.
»Ich hab’s gefunden«, sagte Lulu.
»Wo?«, fragte Laura.
»Da!« Die Patronne tippte mit dem Finger auf einen winzigen Fleck. »Nur ein Katzensprung von Aix entfernt.«
Laura sah das Gewirr von bunten Linien auf der Karte und schöpfte Hoffnung. »Nach Aix fährt von Avignon sicher ein Zug.«
»Du willst Harry im Lager besuchen?« Lulu schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«
»Aber ich habe ihn so lange nicht gesehen. Wenn ich wenigstens einen Brief von ihm hätte. Letzte Woche habe ich geträumt, sie hätten ihm den Bauch aufgeschlitzt. Blutige Gedärme quollen ihm aus dem Leib.«
Lulu drückte ihre Hand. »Hab keine Angst«, sagte sie mit einem teilnehmenden Lächeln. »Wir sind hier in Frankreich. Bei uns wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. Erst veranstalten sie ein Affentheater, um sich wichtig zu machen, und dann geht alles wieder seinen alten Gang.«
»Meinst du?«, fragte Laura unsicher.
»Bestimmt. Warte nur ab. In ein paar Wochen haben sich die Gemüter beruhigt. Dann kannst du es versuchen. Am besten, wir fragen Maître Simon, ob er dir helfen kann. Der findet für alles einen Dreh.« Lulu nahm die Flasche Wein und schenkte nach. »Komm, trink noch ein Glas.«
»Ich hab kein Geld mehr diesen Monat«, sagte Laura.
»Mach dir darum keine Sorgen, Schätzchen. Ich schreib es für dich an.«
5
»Pfui Teufel! Das schmeckt ja wie Hundepisse!«
»Das ist das Brom.«
»Was hat Brom im Tee verloren?«
»Das tun sie in alles rein, auch ins Essen. Damit hier nicht der sexuelle Notstand ausbricht. Und wir in unserem eigenen Sperma ersaufen.«
»Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Bist du so blöd oder tust du nur so? Das Brom sorgt dafür, dass du keinen mehr hochkriegst. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass hier nachts kaum einer wichst?«
Kühl senkte sich die Dämmerung über das Lager von Les Milles. An langen Tischen hockten die Häftlinge in ihren zerlumpten, dreckigen Kleidern und nahmen frierend ihr Abendbrot ein, aus Blechnäpfen, die nie richtig sauber waren, sodass alles immer nach allem schmeckt e – die Kartoffeln nach Kohl und der Kohl nach Fisch. Während die ersten seiner Kameraden vom Hof in die Unterkünfte trotteten, sammelte Harry die leeren Käseschachteln ein, die vom Abendbrot auf den Tischen übrig geblieben waren. Das Lager war in einer ehemaligen Ziegelei untergebracht. Überall lagen zerbrochene Ziegel herum, der Staub drang in sämtliche Ritzen und Poren. Manchmal fühlte Harry sich selber schon wie ein zerschlagener Ziegelstein.
Fast zweitausend Männer hausten in den stillgelegten Fabrikgebäuden, die meisten stammten aus Deutschland und Österreich, ein paar aus Polen und der Tschechoslowakei. Den ganzen Tag mussten sie Ziegel schleppen, von morgens bis abends. Die Arbeit war nicht besonders schwer, doch ohne jeden Sinn. Unter dem Kommando brüllender Sergeanten fuhren Anwälte und Ärzte, Professoren und Warenhausbesitzer, Apotheker und Journalisten Unmengen von Ziegelsteinen in Schubkarren herum, warfen sie von Hand zu Hand und schichteten sie in irgendeiner Ecke des Fabrikhofs auf, um am nächsten Morgen den Stapel, den sie vor ein paar Stunden erst errichtet hatten, wieder zu zerstören und anderswo neu aufzubauen. Die Zeit nach Feierabend war bestimmt von Essen und Schlafen, Schmuggel und Schwarzhandel, Stumpfsinn und
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