Himmelsdiebe
über jeden Brief, den er dir bringen kann.«
»Ich muss endlich nach Les Milles! Ich muss Harry sehen! Ich halte das nicht mehr aus!«
»Du musst Geduld haben, Schätzchen. Maître Simon mein t …«
»Maître Simon kann mich mal!«
»Sei nicht so ungerecht! Maître Simon tut, was er kann. Ein paar Wachtposten lassen angeblich mit sich reden. Vielleicht kann er sie überreden, dass sie dich an den Zaun lassen.«
»Das hat Maître Simon schon vor einer Woche gesagt.«
In einem Zug trank Laura ihr Glas aus. Alkohol war das Einzige, was half. Seit zwei Monaten war sie nun schon allein. Mehrmals pro Woche schrieb sie Harry und gab die Briefe auf dem Rathaus ab, wie es die Vorschrift verlangte. Doch jedes Mal kamen die Briefe mit demselben Stempel zurück: Unzustellbar . Nur ein einziges Mal hatte sie Post von Harry bekommen. »Souvenir aus Largentières«, hatte er auf die Karte geschrieben. Darüber war eine Zeichnung gewesen, aber die hatte die Zensur geschwärzt, zusammen mit dem Text.
»Wahrscheinlich haben sie eine Kontaktsperre verhängt«, sagte Lulu. »Aus Angst vor Spionage. Das war im ersten Krieg genauso.«
Laura schenkte sich den Rest aus ihrer Flasche ein und prostete Pepe zu.
»Du hast ja keine Ahnung, wie ich dich beneide«, sagte sie. »Dumm sein und Arbeit habe n – das ist das Glück!«
Der Briefträger begriff, dass er gemeint war, und antwortete mit einem seligen Grunzen.
»Wenn du so schlau bist«, sagte Lulu, »warum hältst du dich nicht selber dara n – ich meine, was die Arbeit angeht? Du hast früher so hübsche Bilder gemacht. Warum hast du damit aufgehört?«
Laura zuckte die Schultern. Wie sollte sie Lulu erklären, was sie selber nicht begriff? Seit Harry fort war, hatte sie nicht mehr gemalt. Sie hatte Angst, das Atelier zu betreten, in dem sie so viele Stunden mit ihm verbracht hatte. Angst vor dem verlassenen Raum, der sie jenseits der Tür empfing. Angst vor der Einsamkeit, die aus den Ritzen der Wände und Böden kroch. Angst vor der weißen Leinwand, die so öde und leer war wie ihre eigene Seele. Angst vor der Himmelsbeute , die ihr Gefühl der Verlassenheit nur noch verstärkte. Wenn sie an ihr gemeinsames Bild dachte, überkam die Sehnsucht sie mit solcher Macht, dass sie Harry wieder einen ihrer sinnlosen Briefe schrieb, um nicht verrückt zu werden. Außer an ihn hatte sie nur an zwei Menschen geschrieben, einen Brief an Pierre Lauréat, seinen besten Freund in Paris, und einen an ihre Freundin Geraldine in London. Beide Briefe waren ohne Antwort geblieben.
»Wird es nicht langsam Zeit?«, fragte Lulu.
»Ich hab noch nicht ausgetrunken.«
Laura starrte in den Spülbottich am Tresen, in dem die schmutzigen Gläser schwammen. Wie Nebelschwaden waberten die Schlieren in dem brackigen Wasser. Voller Wehmut erinnerte sie sich an Cornwall. Wie sie mit Harry im Morgengrauen auf den Klippen gesessen hatte, hoch oben über dem Fjord, und er ihr all die Wunderwesen gezeigt hatte, die aus dem Nebel aufgestiegen waren, Schatten und Schimären, wuchernde Farne und Blätter, tanzende Kobolde und Feen.
Plötzlich zuckte Laura zusammen. In den Schlieren erschien ein Gesicht: Harry. Obwohl seine Züge im Wasser zitterten, erkannte sie ihn so deutlich, als stünde er im Raum. Er hatte den Mund weit aufgerissen, sein ganzes Gesicht war ein einziger Schrei.
Im selben Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»Ich muss nach Hause«, sagte sie. »Harry wartet auf mich.«
»Harry?« Lulu runzelte die Brauen. »Hast du zu viel getrunken?«
7
Obwohl noch ein Rest in ihrer Flasche war, stand Laura auf und verließ das Hôtel des Touristes . Mit einer Laterne in der Hand stolperte sie durch das ausgestorbene Dorf und dann den steilen Pfad durch den Weinberg hinauf zu ihrem Haus. Wie hatte sie nur so blöd sein können? Es hatte gar keinen Sinn, länger zu warten. Maître Simon würde sie nie und nimmer zu Harry bringen. Es gab nur einen einzigen Ort auf der Welt, wo sie ihren Geliebten finden konnte: in dem Raum, vor dem sie sich am meisten fürchtete. Sie hatte es Harry doch selber gesagt! Wann immer einer von uns daran arbeitet, werden wir zusammen sein. Egal, wo der andere gerade is t … Sie musste zurück in ihr Atelier, um die Einsamkeit zu überwinden. Nur wenn sie zu ihrem gemeinsamen Bild zurückkehrte und malte, Harry malte, sein Gesicht, sein spöttisches Lächeln und seine eisblauen Auge n – nur dann würde er da und bei ihr sein.
Außer Atem erreichte sie das
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