Himmelsdiebe
Streitereien, bevor ein Signal die Gefangenen zur Nachtruhe rief.
Harry hatte Glück gehabt, seine Unterkunft befand sich in der sogenannten Katakombe, einem großen Raum im Erdgeschoss des Hauptgebäudes zwischen den alten Brennöfen, in der Nähe der Waschräume. Im Schein einer trüben Funzel, die bei Tag und Nacht brannte und deshalb das Ewige Licht hieß, trafen sich hier die Schlaflosen, um mit Kartenspielen und Reden die endlose Zeit totzuschlagen. Im Flüsterton, damit die Wachtposten sie nicht hörten, diskutierten sie all die Dinge, über die sie während der Arbeit schon den ganzen Tag lang diskutiert hatten.
»Weihnachten ist der ganze Blödsinn vorbei. Dann lassen sie uns laufen.«
»Das glaubst du doch selbst nicht. Höchstens die Juden! Wenn Hitler Frankreich überfällt, können wir froh sein, wenn sie uns nicht an die Wand stellen!«
»Der Kommandant will eine Siebungskommission einsetzen. Um die Nazis auszusortieren.«
»Wen interessieren hier die Nazis? Sie sollten uns lieber erlauben, Briefe zu schreiben.«
»Ich brauche keine Briefe, ich brauche was auf die Gabel!«
»Darauf kannst du einen lassen! Endlich mal wieder fressen, bis einem der Bauch platzt!«
»Und dazu deutsches Bier, frisch vom Fass!«
»Ruhe im Puff! Ich will endlich schlafen!«
Harry beteiligte sich nur selten an den Gesprächen, die sich so sinnlos im Kreis drehten wie ein Kirmeskarussell. Fast immer ging es um die primitivsten Grundbedürfniss e – oder um die ewige Frage, wie lange ihre Gefangenschaft noch dauern würde. Die Optimisten waren optimistisch, die Pessimisten pessimistisch. Statt sich falsche Hoffnungen oder überflüssige Sorgen zu machen, verbrachte Harry die Abende lieber damit, die Böden der leeren Käseschachteln zu bemalen. Jeden Abend zeichnete er dasselbe Motiv: das Gesicht einer Frau. Jeden Abend dieselben Augen, denselben Mund, dasselbe Lächeln. Und jeden Abend verliebte er sich in diese Frau und in dieses Gesicht und in dieses Lächeln aufs Neue.
»Was soll das werden, wenn’s fertig ist? Eine Wichsvorlage?«
Unwillig blickte Harry auf. Alois Waluschek, der Handelsvertreter aus Wien, mit dem er schon in Largentière zusammen gewesen war, schaute ihm über die Schulter. Niemand im Lager konnte den Fettsack leiden, doch da er angeblich ein Radio besaß, wagte keiner, sich mit ihm anzulegen. An einem Ort, an dem sogar Zeitungen verboten waren, war ein Radiobesitzer so etwas wie ein Hohepriester.
»Mit Nazis spreche ich nicht«, sagte Harry und vertiefte sich wieder in seine Zeichnung.
»Ihr großes Maul wird Ihnen noch vergehen. Nach Polen ist Frankreich dran, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und wenn wir erst Paris erobert haben, geht’s Leuten wie Ihnen an den Kragen. Darauf können Sie Gift nehmen.«
»Haben Sie eigentlich keine Angst, dass die Lagerleitung Wind von Ihrem Radio bekommt?«
»Soll das eine Drohung sein? Wenn Sie mich verpfeifen, machen Ihre Kommunistenfreunde Hackfleisch aus Ihnen. Ohne mich wisst ihr Penner doch nicht, was in der Welt passiert.«
Harry spürte, wie seine Hand zu zittern begann. Obwohl Waluschek Österreicher war, verkörperte er alles, was Harry an Deutschland hasste. Er hoffte nur, dass der Mistkerl seine Angst nicht bemerkte. Laura schaute ihn vom Grund der Käseschachtel mit großen, schwarzen Augen an.
»Na, hat’s dem Herrn Künstler die Sprache verschlagen? Aber was sehe ich da? Sie zittern ja!«
Harry legte die Käseschachtel beiseite und stand auf. Waluschek hatte zwar doppelt so breite Schultern wie er und war außerdem zehn Jahre jünger. Trotzde m – was zu viel war, war zu viel!
Die Gespräche in der Katakombe verstummten. Alle Augen waren auf Harry gerichtet.
Würde er es wirklich wagen, sich mit Waluschek anzulegen?
6
»Wieder keine Post von Harry?«, fragte Lulu.
Laura schüttelte den Kopf. Es war schon fast Mitternacht, seit zwei Stunden saß sie in der Dorfkneipe und trank. Sie hatte einen Eimer Schnecken im Weinberg gesammelt, und dafür hatte Lulu ihr eine Flasche Wein gegeben. Außer Laura waren nur noch ein paar Bauern, drei Bergwanderer und ein Viehhändler in der Kneipe. Und natürlich Pepe. Den ganzen Abend starrte er sie an, ohne sich an ihr sattzusehen. Doch sie schaffte es immer noch nicht, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Sie würde erst gehen, wenn die Flasche leer war.
»Meinst du, dass er mir vielleicht Post unterschlägt?«
»Wer? Pepe?«, fragte Lulu. »Nie im Leben! Der freut sich doch
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