Himmelsdiebe
genug.«
Sie setzte den Blinker und scherte aus. Als sie den Lkw überholten, beugte sich der Fahrer aus dem Fenster und winkte ihnen zu.
Laura atmete auf. Also gab es den Lastwagen doch! Sie hatte schon Angst gehabt, sie hätte ihn sich nur eingebildet.
»Jetzt weiß ich, wofür die Särge sind«, sagte sie.
»Fängst du schon wieder an?«
»Darin verstecken sie die Leichen.«
»Was für Leichen?«
»Von dem Lastwagen. Die Deutschen haben sie umgebracht. Und jetzt wollen sie, dass keiner was merkt.«
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da fing das Auto plötzlich an zu bocken.
»Verflucht!«
Geraldine riss das Lenkrad herum. Mit lautem Hupen donnerte der Lastwagen von hinten auf sie zu. Während sie auf den Straßengraben zuschossen, hielt Laura sich schützend die Hände vor den Bauch.
Zwei eisblaue Augen schauten sie an. War das die Strafe für ihre Flucht?
In diesem Moment geschah das Wunder. Für einen Augenblick, der eine Ewigkeit war, wurde Laura zu dem Auto. Sie war der Motor, die Kupplung, die Bremse, das Getriebe.
Immer noch hupend donnerte der Lastwagen an ihnen vorbei. Dann ein Knall, und alles war still.
»Das war knapp«, sagte Geraldine.
Laura erwachte. War es vorüber?
Als sie den Kopf hob, stand der Fiat vor dem Graben. Ein paar Kühe auf der Weide drehten verwundert die Köpfe nach ihnen herum.
3
Die Läuse brachten Harry fast um den Verstand. Es hatte keine zwei Stunden gedauert, bis sie das Kommando übernommen hatten. Unentwegt musste er sich kratzen, zum Teil an Stellen, von denen er bislang nicht mal gewusst hatte, dass es sie überhaupt an seinem Körper gab. An Malen war nicht zu denken. Ineinander verkeilt und verfilzt mit seinen Nachbarn, war er Teil einer Fuhre Menschen, die das Schicksal blind zusammengewürfelt hatte. Gleichgültig, ob man sich mochte oder zuwider war, hockte man aneinandergepresst im Stroh und schwitzte vor sich hin, während der Zug im Schneckentempo vorankroch und ohne ersichtlichen Grund bei jedem Weinfeld oder Kartoffelacker Halt machte. Schon jetzt stank es in dem Wagen wie in einem Affenstall. Harry vermisste den Waschraum von Les Milles. Hätte er doch besser den Kleiderkoffer mitgenommen? Solange er nicht malen konnte, waren die Käseschachteln in der Tat nur Käseschachteln.
»Wenn man nur wüsste, wohin die Reise geht«, seufzte Erich Hirngiebel.
»Die Wege der Franzosen sind so unerforschlich wie die des Herrn«, erwiderte Harry.
»Dieses ewige Zickzack macht mich ganz verrückt. Mal fahren wir nach Westen, dann nach Süden, dann nach Norden. Gebe Gott, dass sie uns zur spanischen Grenze bringen.«
»Beten ist Ihr Beruf, Herr Professor. Ich kann leider nur hoffen.«
»Oder besser noch, sie bringen uns übers Mee r – nach Afrika, in eine ihrer Kolonien. Ich habe gehört, Algerien soll ein sehr schönes Land sein.«
Bei dem Wort Algerien bleckten die arabischen Wachsoldaten die Zähne. Der eine war ein bärtiger Mensch, von dem man kaum das Gesicht sah, der andere ein hübscher junger Mann mit Tieraugen.
»Hauptsache, sie bringen uns über die Rhone«, sagte Harry. »Erst wenn wir auf der anderen Flussseite sind, sind wir halbwegs in Sicherheit.«
»Muss es korrekterweise nicht der Rhone heißen, lieber Herr Winter? Soweit ich weiß, sagen die Franzosen le und nicht la Rhône.«
Ein dicklicher Holländer, den jedermann beneidete, weil er es geschafft hatte, einen Klappstuhl in den Wagen zu schmuggeln, drehte sich zu ihnen herum.
»Wenn sie uns über die Rhone bringen, müssen wir nach Norden. Aber von dort kommen die Deutschen. Ich glaube eher, sie bringen uns nach Gurs.«
»Sie meine n – in das Frauenlager?«, fragte Harry.
»Nein, das können sie nicht mache n – Männer und Frauen zusammen!« Erich Hirngiebel schüttelte den Kopf. »Was denken Sie, lieber Herr Cohen?«
Der Professor wandte sich an den Nachbarn zu seiner Linken, einen jüdischen Studenten aus Berlin, der gerade versuchte, sich trotz der drangvollen Enge seinen Gebetsriemen anzulegen.
»Ich habe nur eine Sorge«, erwiderte der junge Mann, »dass sie uns an die Deutschen ausliefern. Im Austausch gegen französische Gefangene.« Endlich gelang es ihm, den Gebetsriemen zu schließen. Er rückte seine Kippa zurecht und stand auf. »Wissen Sie vielleicht, in welcher Richtung Jerusalem liegt?«
Bevor er eine Antwort bekam, hielt der Zug abermals an. Außer dem Studenten drängten alle auf einmal zur Waggontür wie bei jedem Halt, in der Hoffnung, dass man sie an
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