Himmelsdiebe
natürlich.«
Laura spürte, wie die Kraft wieder in ihr erwachte. »Bringen Sie mich sofort dahin!«
»Wohin?«
»Zu dem Zug! Ich kann Sie bezahlen!« Aufgeregt kramte sie in ihrer Handtasche. Lulu hatte ihr hundert Franc gegeben, als Vorschuss auf den Verkauf ihres Hauses.
»Der Zug ist schon wieder abgefahren.«
»Dann müssen wir ihn verfolgen!« Sie streckte ihm einen Geldschein hin. »Los, machen Sie schon!«
Bevor der Bauer zugreifen konnte, nahm Geraldine ihr das Geld aus der Hand. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Du willst den Zug verfolgen? Mit einem Trecker?«
»Harry ist in dem Zug!«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich habe seine Stimme gehört.«
Ohne ein Wort kehrte Geraldine ihr den Rücken zu und drückte dem Bauern das Geld in die Hand. »Können Sie uns abschleppen?«
Der Bauer warf einen kurzen Blick auf den Fiat. »Kein Problem. Mein Dorf ist gleich da drüben, hinter dem Hügel. Da gibt es auch eine Reparaturwerkstatt.«
»Aber ich muss zu Harry!«, rief Laura auf Englisch, damit Geraldine endlich kapierte. »Er ist in dem Zug! Ich weiß es ganz genau!«
Der Bauer runzelte die Stirn. »Ist Ihre Freundin vielleicht ein bisschen…« Statt die Frage auszusprechen, fuhr er sich mit der Hand wie ein Scheibenwischer vor dem Gesicht hin und her.
»Keine Angst, es ist alles in Ordnung«, erwiderte Geraldine. »Sie will nur wissen, ob es in Ihrem Dorf auch einen Gasthof gibt.«
5
Ratternd fuhr der Zug durch die Nacht. Kalte, stinkende Dunkelheit füllte den Waggon. Harry döste im Stehen vor sich hin. Todmüde, doch unfähig, wegzudämmern, schwankte er mit den Bewegungen des Zuges hin und her, eingeklemmt zwischen Erich Hirngiebel und Siegfried Cohen, dem Berliner Studenten. Nur zwei Stunden pro Nacht durfte jeder im Liegen schlafen, die restliche Zeit musste man im Wechsel sitzen oder stehe n – mehr Platz war nicht vorhanden.
»Verdammt noch mal, wer hat mein Gebiss geklaut?«
»Sind Sie noch richtig im Kopf? Kein Mensch braucht Ihr Gebiss!«
»Ich habe es vor dem Schlafen hier hingelegt. Jetzt ist es weg!«
»Dann müssen Sie es eben suchen. Irgendwo wird es schon sein.«
Harry schlug die Augen auf. Grauer, nebliger Tag kroch durch die Ritzen in den Waggon. Der Mann, der sein Gebiss vermisste, war ein berühmter Radioreporter aus Frankfurt, dessen Namen Harry sich allerdings nie hatte merken können. Er hätte nicht gedacht, dass ein solcher Mann ein Gebiss benutzt e – als Reporter hatte er immer eine wunderbar klare Aussprache gehabt. Jetzt konnte er sich nur noch nuschelnd artikulieren. Während er auf allen vieren im Stroh herumkroch und jedermann weckte, stieg Harry über die algerischen Soldaten hinweg, die rechts und links der Waggontür mit ihren Gewehren schliefen, um zu schauen, wo sie waren.
Draußen regnete es auf irgendein Weinfeld herab. Fröstelnd schlug Harry den Kragen seiner Jacke hoch. Am Horizont zogen die Ausläufer einer größeren Stadt an ihnen vorbei. Waren sie nach Norden oder Süden gefahren? Wenn ihn nicht alles trog, roch die Luft nach Meer. Aber da war vielleicht auch nur der Wunsch der Vater des Gedanken s – wenn sie ans Meer gelangten, würden sie in Sicherheit sein.
Drei Tage waren sie inzwischen unterwegs, und dauernd wechselten sie die Richtung. Sie waren durch Arles und Sète gekommen, durch Toulouse und Tarbes, Lourdes und Pau. Und immer wieder blieb der Zug irgendwo stehen, ohne dass jemand wusste, warum und wozu.
Würde das ewig so weitergehen, bis der verfluchte Krieg zu Ende war?
Harry kratzte sich im Schritt. Die Läuse waren offenbar auch schon wach. Zum Frühstück aß er die letzte der Aprikosen, die er bei einem Halt einem Bauern abgekauft hatte, zu einem unverschämt hohen Preis. Obwohl er seit einem Tag nichts mehr getrunken hatte, spürte er Druck auf der Blase. Neidisch blickte er auf die zwei Dysenteriekranken, die in einem abgetrennten Strohlager schliefen. Für sie hatten die Soldaten einen Kübel in den Wagen gestellt. Aber den durfte sonst niemand benutzen.
»Diesmal ist sie Ihnen aber ganz besonders schön gelungen«, sagte Erich Hirngiebel.
»Entschuldigung, Herr Professor, aber wovon reden Sie?«
»Von Ihrer Frau, lieber Herr Winter. Ich betrachte ihr Antlitz schon seit geraumer Zeit.«
Erich Hirngiebel reichte ihm die Käseschachtel, die Harry während einer Rast bemalt hatte. Das einzige Bild, das in drei Tagen zustande gekommen war.
»Wissen Sie eigentlich, was für ein Glückspilz Sie
Weitere Kostenlose Bücher