Himmelsdiebe
die frische Luft ließ. Auch Harry hatte seinen Platz verlassen. Vielleicht gab es in der Gegend einen Bach und man konnte sich waschen? Oder Bauern verkauften Obst und Käse am Zug? Doch auch diesmal blieb die Tür verschlossen. Harry schaffte es nur, einen Blick durch die Luke ins Freie zu werfen.
»Oh Gott! Das ist ja fürchterlic h …«
Der Zug hatte auf offener Strecke gehalten. So weit das Auge reichte, wogten gelbe Weizenfelder. Doch mitten durch die Felder hindurch, auf einer Landstraße, die nur einen Steinwurf von den Bahngleisen entfernt lag, wälzte sich eine Prozession vorüber, wie Harry noch keine gesehen hatte. Sie bestand aus Fahrzeugen jedweder Art, Pferdekutschen und Automobilen, Leiterwagen und Puppenwagen, Handkarren und Ochsenfuhrwerken, Mopeds und Motorrädern, Fahrrädern und Traktoren, die über und über beladen waren mit Kisten und Koffern und Schränken und Stühlen und Matratzen. Und dazwischen schoben und drängten sich überall Fußgänger, Männer und Frauen, Kinder und Greise. Sie alle hatten nur eine Richtung: Weste n – die spanische Grenze.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Erich Hirngiebel.
Harry gab keine Antwort. Sie blieb ihm im Halse stecken.
»Sie denken an Ihre Frau, nicht wahr?« Behutsam legte der Professor ihm eine Hand auf die Schulter. »Dann erlauben Sie mir, dass ich für Sie bete.«
4
Eine Kuh kam ans Auto und leckte an der Windschutzscheibe. Laura war fasziniert von der riesigen, großporigen Zunge. Geraldine drückte auf die Hupe, bis die Kuh verschwand.
»Ich sehe mal nach, was los ist.«
Sie stieg aus und klappte die Motorhaube auf. Laura hob Harrys Pass auf, der ihr zwischen die Füße gefallen war, und verließ gleichfalls den Wagen.
Draußen stank es nach Tod.
»Ich glaube, die Bremsen sind blockiert«, sagte Geraldine.
»Blockiert?«
Als Laura das Wort wiederholte, durchströmte sie ein seltsames Gefühl.
»Ich bin stolz auf dich«, flüsterte Harry.
Plötzlich begriff sie, was geschehen war. Sie selber hatte das Auto zum Stehen gebracht! In dem einen Augenblick, in dem sie das Auto gewesen war, hatte sie das Unglück aufgehalten, mit derselben Kraft, mit der sie in Sainte-Odile die Soldaten zum Schrumpfen gebracht hatte.
So musste Gott sich fühlen, wenn er im Himmel regierte.
»Was nun?«, fragte Geraldine.
»Ich dachte, du bist die Praktische von uns beiden.«
»Ich bin mit meinem Latein am Ende. Von Autos verstehe ich nichts.«
Laura konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn ihre Freundin wüsst e … Ohne Geraldine einzuweihen, beschloss sie, die Sache in die Hand zu nehmen. Mit ihrer neuen Kraft vermochte sie alles! Doch sosehr sie sich bemühte, sich wieder in das Auto zu verwandel n – sie schaffte es nicht. Der Fiat rührte sich nicht vom Fleck.
Als sie die Arme und Beine sah, die aus den Särgen am Straßenrand hingen, wusste sie den Grund.
»Das muss an den Leichen liegen«, sagte sie.
»Wenn du noch einmal damit anfängst, hau ich dir eine runter!«
Wütend knallte Geraldine die Motorhaube zu. Laura streckte der Kuh ihre Hand hin. Während die Kuh ihr die Hand leckte, knatterte ein Traktor heran. Geraldine sprang auf die Straße und winkte mit beiden Armen, um ihm den Weg zu versperren.
»Können Sie uns helfen?«, fragte sie, als der Traktor anhielt.
Der Bauer schaute sie misstrauisch an. »Sind Sie Deutsche?«
»Nein, Engländerinnen.«
Das Gesicht des Bauern wurde freundlich. »Das ist was anderes.« Er stellte den Motor ab und kletterte von seinem Sitz. »Ich komme nämlich gerade von einem Zug mit Deutschen, die unsere Soldaten zur Grenze bringen.«
Laura horchte auf. »Was waren das für Deutsche?«
Der Bauer überhörte ihre Frage. »Sechsundfünfzig Waggons hatte der Zug«, schimpfte er, »ich habe selber nachgezähl t – nur für die verfluchten boches . Und unsere französischen Frauen und Kinder müssen zu Fuß über die Grenze fliehen.«
»Bitte, was waren das für Deutsche?«, wiederholte Laura und ließ die Kuh stehen. »Gefangene?«
Der Bauer zuckte die Schultern. »Feindliche Ausländer, soviel ich weiß. Aus irgendeinem von diesen Lagern.«
»Aus welchem Lager? Les Milles?«
»Keine Ahnung. Vielleicht.« Er nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Glatze. »Der Zug stand an der Strecke nach Bayonne. Keine zwei Kilometer von hier. Ich habe den boches ein paar Kisten Aprikosen verkauft.« Mit dem Zeigefinger zog er sich ein Augenlid herunter. »Zum doppelten Preis
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