Himmelsdiebe
Hand.
»Bedanken Sie sich bei Mathilde«, sagte der und erwiderte seinen Händedruck.
Die beiden Männer tauschten noch einen Blick, dann stieg Harry aus. Würden sie sich jemals wiedersehen? Während Carl Altstrass den Wagen wendete, winkte Harry ihm nach. Nein, seine Flucht war keine Heldentat gewesen, von der er seinen Enkeln dereinst würde erzählen könne n – falls Bobby überhaupt je Kinder bekäme. Nur einmal war es unterwegs brenzlig geworden, an einer Tankstelle zwischen Nîmes und Avignon, weil sie den Fehler gemacht hatten, deutsch miteinander zu reden. Der Tankwart hatte Verdacht geschöpft und sie in ein Gespräch verwickelt. Doch zum Glück sprachen sie beide so gut Französisch, dass der Mann ihre Geschichte geglaubt hatte. Sie hatten sich als Elsässer ausgegeben, die auf der Flucht vor den deutschen Truppen nach irgendwelchen verschollenen Verwandten suchten.
Harry wartete, bis der Renault hinter einer Kurve verschwand. Dann ging er den Weinberg hinauf. Friedlich schlummerte das Dorf im Mondschein, nicht mal bei Lulu brannte Licht. War es wirklich möglich, dass er in ein paar Minuten Laura in den Armen hielt? Harry wagte es kaum zu hoffe n – zu groß würde die Enttäuschung sein, wenn auch ihre Fenster dunkel waren.
Noch war das Zauberhaus hinter einem Hügelvorsprung verborgen. Obwohl er in der Dunkelheit kaum etwas sah, beschleunigte er seinen Schritt. Er hatte gar nicht gewusst, wie lang der Weg durch den Weinberg war.
Plötzlich sah er das Haus. Das Wohnzimmerfenster leuchtete strahlend hell in der Finsternis. Harry konnte sein Glück kaum fassen. Sogar Dadas Schatten erkannte er an der Fassade. Wie ein alter Freund grinste er ihm zu. Nur sein bestes Stück fehlte, offenbar hatte jemand ihn seiner Männlichkeit beraubt.
»C’est la guerre, mon am i …«
Eilig stolperte Harry das restliche Stück Weg hinauf. Außer Atem erreichte er das Haus. Als er im Hof stehen blieb, hörte er leise, ganz leise, die Klänge einer vertrauten Musi k – so fein und zart, als kämen sie aus dem Himmel. Harry spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Laura hatte das Grammophon angestellt, und der Walzer, der durch die Finsternis schwebte, war ihr Walzer!
Er nahm den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. Hoffentlich hörte sie ihn nicht, er wollte sie überraschen. Mit einer Hand am Griff versuchte er, die Tür zu öffnen. Doch der Schlüssel klemmte, keinen Millimeter ließ er sich bewegen.
War das Schloss eingerostet? Oder hatte Laura es ausgewechselt?
Harry ließ den Schlüssel stecken und ging ums Haus. Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, kletterte er die Böschung hinauf, von der aus er in das obere Stockwerk schauen konnte. Beide Wohnzimmerfenster waren geöffnet, immer deutlicher hörte er die Töne des Walzers. Das Lachen einer fremden Frau mischte sich in die Musik. Seltsa m – hatte Laura Besuch? Um nicht die Böschung hinabzustürzen, hielt Harry sich mit einer Hand an einem Ast fest, während er mit der anderen nach dem Fenstersims tastete.
Als er in das Wohnzimmer schaute, zuckte er zusammen. Nur ein paar Armlängen von ihm entfernt, tanzte Maître Simon an ihm vorbei, zusammen mit Mademoiselle Lautrec, der Schauspielerin aus Toulouse, die einmal im Monat nach Sainte-Odile kam. Lachend warf sie den Kopf in den Nacken und drehte sich mit dem Notar im Kreise. Doch von Laura keine Spur.
Was hatte das zu bedeuten?
Harry wollte gegen die Fensterscheibe klopfen, um sich bemerkbar zu machen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne. Konnte er Maître Simon trauen? Unwillkürlich zog er den Kopf ein. Sicher, sie waren früher befreundet gewesen, doch Menschenkenntnis war nicht seine Stärke, und seit der Krieg begonnen hatte, entpuppten sich ganze Scharen vermeintlicher Freunde als Verräter, die ihre Großmutter an den Teufel verkauften, um sich irgendeinen Vorteil zu ergattern. Warum nicht auch Maître Simon? Früher hätte Harry sich ja auch nicht träumen lassen, dass Pepe ihn verraten würde, und doch hatte der ihn als Spion angezeigt.
Harry kletterte die Böschung hinunter und eilte zurück ins Dorf. Es gab nur einen Menschen in Sainte-Odile, dem er bedenkenlos trauen konnt e … Ohne sich um die Uhrzeit zu kümmern, trommelte er Lulu aus dem Bett. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er ihre schlurfenden Schritte hörte. Im Nachtgewand öffnete sie die Tür.
»Mein Gott!«, rief sie, als sie ihn erkannte. »Seit wann hast du eine Glatze? Du siehst ja aus wie
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