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Himmelsdiebe

Himmelsdiebe

Titel: Himmelsdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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jetzt hing von seiner Entscheidung sein Leben ab. Aus dem Lager zu fliehen war ein Kinderspiel. Jeden Tag hauten Dutzende seiner Kameraden ab, die meisten nach Marseille, in der Hoffnung, sich im Labyrinth der Hafenstadt unsichtbar zu machen oder dort ein Schiff für die Flucht übers Meer zu finden. Auch die spanische Grenze war angeblich immer noch offen. Allerdings verlangten die Spanier einen Pass, und Harrys Pass war in seinem Haus in Sainte-Odile, genauer: im Schlafzimmer, ganz genau: in der zweiten Wäscheschublade von oben.
    »Bist du etwa feige?«
    Harry zuckte zusammen. Für einen Moment hatte er geglaubt, Lauras Stimme zu hören. Hatte er schon Halluzinationen? Nein, ihre Frage war nur Ausdruck seiner jämmerlichen Angst. Laura hatte recht, er war feige, er hatte die Hosen schon jetzt gestrichen voll, wenn er an Flucht überhaupt nur dachte. Denn egal, wohin er fliehen würde, ob nach Marseille oder in Richtung Spanie n – nirgendwo würde er seines Lebens sicher sein. Die französische Regierung im sogenannten freien Teil Frankreichs war genauso faschistisch wie die Nazi-Regierung in Deutschlan d – wenn ein Polizist ihn erwischte, ging es heim ins Reich. Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, sich unbemerkt von der Polizei durchzuschlage n – auch vor der Bevölkerung hatte er allen Grund, sich zu fürchten. Ohne ordentliche Papiere würden die Franzosen ihn für einen versprengten Nazi halten, für einen Feind, und entsprechend würden sie ihn behandeln.
    Harry schaute auf Lauras Bild. Würde er seine Windsbraut je wiedersehen? Die Situation war so ausweglos, dass Siegfried Cohen sich in Nîmes schon Blausäure besorgt hatte.
    »Pssst«, machte es plötzlich in seinem Rücken.
    Harry drehte sich um. Als er sah, was er sah, zweifelte er an seinem Verstand. Aus einem Gebüsch schaute ihm ein Gesicht wie ein Uhu entgegen, ein Mann mittleren Alters mit Halbglatze und Brille.
    »Herr Altstrass?«, fragte Harry ungläubig. »Carl Altstrass?«
    »Nicht so laut!«, zischte der andere. »Sind Sie es, Herr Winter?«
    »Ja natürlich, wer sonst?«, erwiderte Harry und fasste sich an den Kopf. »Ach so, die Glatze.« Er ließ sein Malzeug liegen und trat an das Gebüsch. »Um Himmels willen, wo kommen Sie her? Ich dachte, Sie sind längst in Amerika!«
    »Wir haben die Visa noch nicht. Aber jetzt ist keine Zeit zum Reden! Bitte folgen Sie mir!«
    »Wohin? Was haben Sie vor?«
    »Keine Fragen. Vertrauen Sie mir. Mathilde hat mich geschickt.«
    Harry klaubte seine Malsachen auf und verschwand mit Carl Altstrass in das Gebüsch. Dahinter schloss sich ein kleines Waldstück an. Seite an Seite krochen sie durch das Unterholz.
    Harry konnte seine Neugier nicht länger beherrschen.
    »Woher weiß Mathilde, dass ich hier bin?«
    »Willy Kemmler hat es ihr erzählt. Sie hat ihn in einer Emigrantenkneipe getroffen, in Marseille.«
    »Ich kenne keinen Willy Kemmler«
    »Er war mit uns beiden in Les Milles. Ein Mann, so alt wie ich, Mitte vierzig. Er hat keine Zähne und nuschelt ganz fürchterlich.«
    Endlich fiel es Harry wieder ein. Wie konnte er nur so begriffsstutzig sein? »Natürlich, der Radioreporter aus Frankfurt! Er hat sich in Bayonne aus dem Staub gemacht.«
    Das andere Ende des Waldstücks wurde gleichfalls von dichtem Gebüsch begrenzt. Vorsichtig spähten sie durch die Zweige. Zwischen dem Wald und einer Wiese führte die Landstraße vorbei. Am Rand parkte ein verbeulter Renault.
    »Das ist unser Auto«, sagte Carl Altstrass. »Los! Steigen Sie ein!«
    In geduckter Haltung verließen sie das Gebüsch. Die Tür des Renaults war nicht verriegelt. Ohne zu wissen, was er tat, nahm Harry in dem Wagen Platz. In der Ferne sah er das Lager. Am Zaun glaubte er Erich Hirngiebel und Siegfried Cohen zu erkennen. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Hatte er je einen besseren Freund gehabt als diesen weltfremden Theologieprofessor? Fast musste er sich Gewalt antun, um den Blick abzuwenden.
    »Und was passiert jetzt?«, fragte er.
    »Das müssen Sie entscheiden«, sagte Carl Altstrass und ließ den Motor an. »Sie ganz allein.«
    10
    Endlich war der Fiat repariert und fahrbereit. Geraldine hatte bereits gepackt. Lauras Koffer lag noch offen auf dem Bett. Sie hatte erst ein paar Strümpfe hineingelegt. Und die Puppe.
    »Ich fahre nicht nach Spanien«, erklärte sie.
    »Wie bitte?«, erwiderte Geraldine. »Seit einer Woche verbringe ich mein Leben mit Telegrafieren, nur damit wir endlich aus diesem Land

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