Himmelsfern
zog Luft durch die Zähne. Der Juli lag in den letzten Zügen, der August raste uns schon entgegen. Wollte ich ihn mit Lukas und der Band verbringen? Marlon lehnte inzwischen knapp zwei Meter entfernt an einem Zaun und sah die StraÃe hinunter.
»Wenn du keinen Bock mehr hast«, fuhr Lukas fort, »dann sag Bescheid. Wir halten dir einen Platz frei, Fire, aber nur, wenn du ihn wirklich willst. Du weiÃt, dass auch noch diese Schlangentänzerin darauf wartet, mit uns aufzutreten.«
»Ich weiÃ. Ich will den Platz.« Das klang wenig überzeugend und ich schämte mich dafür. Vor Kurzem hätte ich noch ein Verbrechen begangen, um mit Lukas und den Death Ponys aufzutreten â ich hätte der Reptilientussi einen Knoten in ihre Schlange gemacht, um meine Chancen zu verbessern â, und jetzt war es mir beinahe lästig?
»Dann«, Lukas legte mir eine Hand auf den Oberarm und streichelte mit dem Daumen meine Schulter, »solltest du morgen kommen, Fire. Ehrlich, solltest du.«
»Ich weià niâ«
»Sie kommt!«, rief Marlon zu uns rüber. Mich wunderte, dass er uns überhaupt verstehen konnte, und noch mehr, dass er Entscheidungen für mich traf.
Lukas zog seine Hand weg und steckte sie zurück in seine Hosentasche. »Ach, wirklich?«
Gute Frage, die hätte von mir kommen können.
Lukas legte nach: »Entscheidest du das, du Freak? Wer bist du, dass du Fire Vorschriften machst?«
So hätte ich es nun nicht ausgedrückt.
Marlon zuckte mit den Schultern und ich hätte gerne dasselbe getan, aber ich sagte stattdessen schnell: »Ist schon okay, ich komme. Am Sportplatz, wie immer?«
Lukas nickte, ich versicherte ihm, pünktlich zu sein, dann verabschiedete er sich und ging. Zum ersten Mal war ich froh, ihn nicht länger sehen zu müssen, und das verwirrte mich. Er hatte sich schlieÃlich nicht verändert, war derselbe Lukas wie immer. Okay, ich schwärmte nun nicht mehr für ihn, aber warum war er mir gleich unsympathisch?
»Was sollte das?«, wollte ich von Marlon wissen, als wir zum Auto gingen.
Seine gute Laune war wie weggeblasen. »Du solltest wegen mir auf nichts verzichten und niemanden verprellen«, sagte er ohne Umschweife. »Ich bin bald fort.«
»Aber jetzt bist du hier.«
»Ja. Und ich möchte in meinen letzten Wochen nichts kaputt machen. Nicht, wenn es zu vermeiden ist. Geh zu der Probe und mach deine Auftritte. Morgen, nächste Woche und nächsten Monat. Lass das nicht sausen, nur weil ich jetzt hier bin oder später fort sein werde. Das Entscheidende ist: Du wirst hier bleiben, also lebe dein Leben. Umso weniger wird es dir wehtun.«
»Sprichst du aus Erfahrung?«, gab ich ein wenig patzig zurück. Im gleichen Moment fand ich die Antwort selbst. Natürlich tat er das. Auch er war zurückgelassen worden. Von seinen eigenen Eltern. Ich brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen, als er antworten wollte, nahm seine Hand, drückte sie und murmelte: »Entschuldigung.« Während wir zu Emmas Auto gingen, hing jeder von uns seinen Grübeleien nach. Beim Einsteigen kam mir eine Erkenntnis, die ich mit ihm teilen wollte.
»Du wirst gar nicht fort sein. Sondern nur woanders.«
Ich hatte ihn aufmuntern wollen, doch das Gegenteil trat ein. Er lächelte, aber es sah aus, als wollte er weinen. Und er entgegnete nichts.
Wir fuhren zu ihm nach Hause â eher gesagt, zu dem Ort, den er aktuell als sein Zuhause bezeichnete. Zum Drachenhaus. So nannte ich es, der Graffiti wegen, aber auch weil der wilde Wein, der das Gemäuer einhüllte, an die Schuppen von Drachenhaut erinnerte. Marlon wurde blass, als er seinen Wagen vor dem Eingang stehen sah.
»Corbin muss ihn geholt haben«, sagte er tonlos. »Dieser dumme Sturkopf.«
Ich dankte Corbin innerlich, denn so musste Marlon sich nicht in Gefahr bringen. »Dafür sind groÃe Brüder doch da.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht verstehen. Für ihn sollten andere Regeln gelten.«
Ich hakte nach: »Was meinst du?«, aber er suchte die Worte mal wieder erfolglos und gab vorschnell auf.
Wir gingen in die Wohnung und stellten fest, dass die anderen nicht da waren. Das Wohnzimmer schien ein wenig belebt als am Tag zuvor, Corbins Gitarre lag auf einem der Sofas, in einer Ecke stapelten sich ein paar Bücher. Während Marlon in die Küche ging, um uns
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