Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
Vom Netzwerk:
und zwanzig ist eigentlich schon nicht mehr möglich.«
    Â»Bei Corbin schon?«
    Â»Ja.« Marlon nickte entschlossen. »Ja, bei Corbin schon.«
    Er parkte direkt vor dem Friedhof, nachdem er mehrmals um das Gelände herumgefahren war und auf die am Straßenrand stehenden Autos geachtet hatte. Er suchte nach ortsfremden Nummernschildern – ein Hinweis, dass Huntsmen in der Nähe waren –, fand aber keine. Inzwischen war es früher Nachmittag und außer Marlons Audi stand nur ein Kleinwagen auf dem Parkplatz. Mir fiel auf, wie nervös er sich umsah. Seine Unruhe befiel mich wie ein Virus und ich schaffte es kaum, meine Gedanken zu Ende zu denken.
    Â»Warum machen sie es euch so schwer?«, wollte ich wissen, als wir ausstiegen. »Warum kommen sie nicht zu euch und sagen euch, wohin ihr in dieser Nacht gehen müsst?«
    Â»Jetzt hast du mir nicht zugehört.« Er wandte mir und dem Auto den Rücken zu, hielt den Schlüssel über seine Schulter und schloss den Wagen per Fernbedienung ab. Er sprach erst weiter, als ich wieder neben ihm war: »Sie erinnern sich nicht an uns. Manche denken irgendwann daran zurück, dass sie einst ein Mensch waren, und können zwischen den Gestalten wechseln. Bei meinen Eltern war es so, bis ihnen das Wechselspiel nichts mehr gab und sie endgültig zurück in den Himmel gingen. Meine Großeltern dagegen blieben Menschen, weil sie sich dem Kampf gegen die Huntsmen verschrieben hatten. Die meisten vergessen ihre Menschlichkeit allerdings auf immer und werden zu von Trieben gesteuerten Tieren. Manche von ihnen scheinen die Erinnerungen zu suchen und nähern sich uns – ich vermute instinktiv. Und die wenigen, die wieder zu Menschen werden, wissen nicht, nach wem sie suchen müssen, verstehst du?«
    Um ehrlich zu sein: Nein. Mein ratloser Blick musste Bände gesprochen haben, denn Marlon seufzte lautlos und fuhr fort.
    Â»Nach der Rückverwandlung zum Menschen bleibt ein tierischer Instinkt zurück: den Schwarm zu vergrößern, weitere unserer Art zu finden. Es hat nichts mit Gefühlen zu tun, es ist eine Aufgabe, so wie Bienen die Aufgabe haben, Blütenstaub zu sammeln, oder Kraniche im Herbst gen Süden fliegen. Aber Harpyien können dazu kaum eine Kontaktanzeige aufgeben oder eine Facebookgruppe gründen. Sie wissen nichts von uns, wissen nicht, nach wem sie suchen, sie erkennen uns nicht mal, wenn nicht durch Zufall eine gemeinsame Vergangenheit existiert. Alles, was sie wissen, ist, dass es verlorene Kinder gibt, die zum Schwarm zurückfinden müssen. Und dass alle Harpyien Steine singen hören. Es liegt nahe, darüber mit uns Kontakt aufzunehmen. Aber es bleibt, was es ist: ein Instinkt. Mehr nicht.«
    Er erzählte mir das vollkommen unbekümmert, aber der Sinn seiner Worte brachte den Kloß in meiner Kehle zum Wachsen.
    Seine Familie hatte ihn vergessen.
    Außer uns waren nicht viele Besucher auf dem Friedhof; nur ein paar alte Leute, die vermutlich täglich herkamen, weil sie sonst keinen Grund fanden, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie benetzten die Blumen auf den Gräbern mit Wasser aus ihren Gießkannen, obwohl die Erde von dem Unwetter in der Nacht noch vollkommen durchnässt war. Jeder laue Windstoß ließ einen weiteren Schauer aus den Bäumen auf uns herabregnen.
    Wir beeilten uns und ich sah mich dabei ebenso unruhig um wie Marlon, dessen Blicke wie immer überall waren. Niemand schien verdächtig, trotzdem ließ die Nervosität nicht von uns ab.
    Als wir den Stein erreicht hatten, hielt ich Wache, während Marlon von hinten an das Grab herantrat, um die Hände auf den Marmor zu legen. Ich beobachtete ihn genau, achtete auf jedes Zucken seines Mundes, auf jedes Anzeichen einer Veränderung in seinen Augenwinkeln. Er zeigte Interesse angesichts dessen, was er hörte, war sogar ein wenig erstaunt, aber ich glaubte ihm anzusehen, dass es nicht ihn persönlich betraf. Plötzlich jedoch zeichnete tiefes Erschrecken sein Gesicht, er presste sein Ohr dichter an den Stein. Als er sich schließlich aufrichtete, schien er etwas von unfassbarer Tragweite begriffen zu haben, aber ich erkannte nicht, ob es eine gute oder schlechte Nachricht war, die er empfangen hatte.
    Â»Was ist?«, fragte ich.
    Er zuckte mit den Schultern, als müsste er Zeit schinden. »Ein Kinderlied.«
    Â»Mensch, darauf wäre ich nie gekommen. Aber was soll es

Weitere Kostenlose Bücher