Himmelsfern
Getränke zu holen, blätterte ich das oberste durch. Ein Foto fiel heraus und segelte zu Boden. Ich hob es auf, betrachtete es. Marlon, Arm in Arm mit einem hübschen blonden Mädchen, beide lachten. Das Bild versetzte mir einen Stich, aber ich konnte den Grund nicht benennen. War ich eifersüchtig? Auf ein Foto? Ich wollte das Bild schnell zurücklegen, als Marlon durch die Tür trat. In seiner Miene veränderte der Anblick des Fotos etwas, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
»Woher hast du das Foto?«
»Es lag in einem der Bücher. Wer ist das?«
Er nahm es mir aus der Hand, ohne es anzusehen, klappte das Buch auf, das ganz oben auf dem Stapel lag, und warf mir einen fragenden Blick zu. »Dieses Buch?« Er schob das Bild zwischen die Seiten, als ich nickte.
»Es gibt ein paar Dinge, über die wir nicht reden«, erklärte er mir dann. »Sie gehört dazu.«
Ich ignorierte den Teil mit dem Nicht-Reden. »Und wer ist sie? Deine Freundin? Exfreundin?« Oh bitte, lass es Letzteres sein!, flehte ich innerlich.
»Corbins Freundin.« Marlon sah durch mich hindurch, dass es mir Angst machte. »Sie ist tot, Noa.«
Ich stand einen Moment unbeweglich da, schluckte dann heftig und schmeckte Salz in meiner Kehle. Sicher hätte ich ihm Fragen stellen können, aber ich wusste nicht, ob ich die Antworten erfahren wollte, daher murmelte ich nur betroffen »Tut mir leid«.
»Mir auch«, erwiderte Marlon.
Eine Weile lungerten wir unschlüssig herum. Wir wollten nicht weiter über das Mädchen sprechen, aber es schien irgendwie falsch, einfach das Thema zu wechseln, also schwiegen wir. Es war nur zu Anfang unangenehm. Man konnte fast spüren, wie sich die Stimmung nach einiger Zeit wieder aufhellte, bloà weil wir uns ansahen.
»Spielst du auch?«, fragte ich irgendwann und deutete auf die Gitarre.
Er grinste und nahm sie an sich. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte den Rücken an die Backsteinwand. Mir gefiel es, den rauen Stein durchs T-Shirt zu spüren. Mein Haar verklettete sich mit dem Gemäuer, als ich den Hinterkopf dagegendrückte. Marlon zupfte ein paar Saiten. Der Rhythmus stimmte nicht, ich erkannte erst zum Schluss, was es darstellen sollte.
»Das Intro von den Simpsons?« Ich lachte und er zuckte mit den Schultern.
»Ich kann nur das.«
»Das eignet sich natürlich weniger dazu, um es in einen Stein einzusingen.« Ich drehte den Kopf, sodass mein Ohr an der Wand lag, und lauschte. »Wenn man ein Lied in einen Stein einsingen kann, dann müsste sich eine Hauswand als Plattensammlung nutzen lassen.«
Marlon winkte amüsiert ab. »Ein Stein braucht eine gewisse GröÃe, damit die Töne darin schwingen können, ansonsten sind sie nicht hörbar. Und es muss ein ganzer Naturstein sein, zwei zusammengemauerte oder Backsteine kann man nicht besingen. Du glaubst mir also inzwischen, dass es möglich ist?«
»Ich habe es gehört«, erwiderte ich verwirrt. »Das habe ich dir doch gestern erzählt.«
Marlon legte die Gitarre weg, kniete sich neben mich und sah mich an, als wäre mir eine zweite Nase gewachsen. »Du hast einen Stein singen hören?«
»Das sagte ich bereits.« Ich reckte spöttisch das Kinn. »Hörst du mir denn nicht zu?«
Marlon hatte den Anstand, hauchfein zu erröten. »Ich dachte, du wärst betrunken.«
Das war nicht ganz falsch. Ich war betrunken gewesen, andernfalls hätte ich nie zugegeben, tatsächlich etwas gehört zu haben. »Wie kommt es, dass ich so etwas nie zuvor wahrgenommen habe? Ich bin doch nicht zufällig, kurz nachdem ich dich kennengelernt habe, am ersten singenden Stein meines Lebens vorbeigelaufen, oder?«
Er zuckte mit den Schultern. »Man hört es erst, wenn man weiÃ, dass es möglich ist. Ich kann es dir nicht erklären, aber das scheint immer so zu sein, bei allen.«
Ich presste mein Ohr fester gegen die kalte Wand, aber alles, was ich hörte, war das Gurgeln von Wasserleitungen.
»Vielleicht ist es so, wie wenn man sich ein Auto einer bestimmten Marke kauft«, sinnierte Marlon. »Du glaubst, es wäre selten. Aber plötzlich siehst du es überall.«
Ich bezweifelte, dass an jeder StraÃenecke Autos standen, wie er eins fuhr, nickte aber, weil es logisch klang.
»Jetzt verrate mir, wo du den Stein gefunden und was du gehört hast!«,
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