Himmelsfern
sie in meinen Kopf zu lassen, weil das, was er mir soeben zu sagen versucht hatte, schlimmer war als meine verklärte Vorstellung von einem Jungen, der sich in einen Vogel verwandelte. Leider kroch mir das Wissen dennoch in den Kopf, sosehr ich auch die Fäuste ballte, mir die Nägel in die Handfläche grub und die Lippen zusammenpresste, als könnte pure Willenskraft daran etwas ändern, als könnte sie mich davor bewahren, zu begreifen. Aber ich begriff. Er würde sich nicht verwandeln . Er musste zu einem Vogel werden . Die Worte meiner Oma kamen mir in den Sinn: In ihren Augen ist die Grausamkeit des Himmels.
Sie hatte recht. Ich hatte es damals nicht verstanden, aber der Himmel war grausam. Ich erkannte es, wenn ich in Marlons Augen sah. Er würde fliegen und seine Träume, seine Wünsche und alles, was ihn ausmachte, hinter sich auf der Erde lassen.
Marlon würde aufhören zu existieren.
»Ich werde dich vergessen, Noa.« Seine Stimme war so leise, dass es wehtat, ihr zu lauschen. »Ich werde alles vergessen und es wird nichts geben, was mich das bedauern lässt. Ich werde nichts bereuen und mir wird nichts fehlen. Ich werde mich selbst vergessen. Meine einzige Chance, wieder zu mir zu finden, liegt darin, mich trotzdem zu erinnern. Dazu braucht es ein Wunder.«
Du wirst dich erinnern, dachte ich, aber ich sagte etwas anderes.
»Ich werde dich nicht vergessen.«
Wir schliefen noch lange nicht, sahen einander nicht an und berührten uns nicht, abgesehen von meiner Hand, die in seiner lag, bis unsere Handflächen nass geschwitzt waren. Wir lieÃen dennoch nicht los. Wir redeten.
Er fragte mich nach meinen Zukunftsplänen und ich verriet ihm, wie ahnungslos ich davorstand und wie dankbar ich war, durchs Abitur etwas Zeit zu haben. Ich erzählte ihm von meiner Vorliebe für Sport und Mathe sowie von meinen Schwächen in Deutsch und dass ich das Theaterspielen in der Schul-AG liebte, obwohl mir das Lernen der Texte schwerfiel. Wir lachten leise über meinen Kindheitstraum, Schauspielerin zu werden, aber insgeheim überlegte ich, ob er sich wohl an mich erinnern würde, wenn mein Bild auf groÃen Filmplakaten in jeder Stadt zu sehen wäre.
Er erzählte mir von seiner Schulzeit, davon, wie gerne er immer schon erzählt und gesprochen hatte und wie wenig es ihm gelungen war, weil Worte für ihn wie arrogante schöne Mädchen waren, die sich aus der Ferne bewundern lieÃen, sich jedoch abwandten, wenn man sie ansprechen oder nur näher in Augenschein nehmen wollte.
»Wenn alles anders wäre«, fragte ich ihn, »wo wärst du in fünf Jahren und was würdest du tun?«
Marlons Antwort lieà nicht lange auf sich warten und verwirrte mich. Ich hatte gedacht, er sähe sich als Schriftsteller oder als Astronom. Es war schlieÃlich nichts als ein Wunschtraum, warum also nicht in den Wolken schweben? Stattdessen sagte er todernst: »Ich wäre Bauer. Ich hätte ein Feld, um in der Erde herumzuwühlen, einen Trecker, ein paar Kühe, in deren Stall Musik laufen würde, damit sie bessere Milch gäben, auÃerdem Hühner und einen Hund, der die Krähen verjagte. Ich wäre ständig damit beschäftigt, Mist wegzumachen und am Hungertuch zu nagen, weil Landwirte wirklich schlecht verdienen. Zudem hätte ich eine höchstwahrscheinlich erfolglose, aber nichtsdestotrotz wunderbare, verfressene Schauspielerin durchzufüttern. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich der glücklichste Bauer der Erde wäre?«
Ich hatte keine Ahnung, wie glücklich der gemeine Durchschnittsbauer war, aber ich glaubte Marlon. Es war das Bild, mit dem ich einschlief, als er noch wach lag.
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Wie man Steine singen hört
Das Klackern, mit dem die Haustür geöffnet wurde, brach durch meinen Schlaf. Ich spürte, wie ein Teil meines Unterbewusstseins sich damit abmühte, das Geräusch des Schlüssels im Schloss in meinen Traum zu integrieren, damit ich weiterschlafen konnte, doch der andere Teil war strikt dagegen. Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, warum ich heute nicht länger schlafen durfte.
Ich hatte etwas versprochen. Ich musste auf ihn aufpassen.
Durch den Gedanken an Marlon unter Strom gesetzt, schoss ich in die Senkrechte. Es grenzte an ein Wunder, dass ich ihn dabei nicht aufweckte, denn die Matratze wackelte heftig, aber Marlon schlief weiter, atmete ganz ruhig, selbst
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