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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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einen Moment länger als nötig an seinem Hals hängen, die Nase in sein T-Shirt gepresst, und kam nur widerwillig zurück auf die Füße. »Warum braucht ihr andere Harpyien, um euch zu verwandeln? Wie funktioniert das? Hat es etwas mit Magie zu tun?«
    Â»Das auch«, antwortete er. Ich hatte den Eindruck, dass es ihm immer leichter fiel, über diese Verwandlungsgeschichte zu sprechen. »Es ist außerdem so, dass wir nach der Verwandlung in Panik geraten. Stell dir einen Vogel mit plötzlicher Amnesie vor. Er weiß nicht, wo er ist, wer er ist oder was er tun soll. Vögel haben im Vergleich zu ihrem restlichen Körper ein enorm großes Herz, womit das Risiko eines stressbedingten Infarkts ansteigt. Dazu kommt, dass eine Vogellunge anders funktioniert als eine menschliche. Als Mensch atmest du ein, die Luft verweilt in der Lunge, bevor du sie auf demselben Weg wieder ausatmest. Eine Vogellunge wird permanent von Luft durchströmt, wie ein Kanal. Nach der Verwandlung müssen wir das Atmen von Neuem lernen.«
    Ich spürte bei seinen Worten einen Druck auf dem Brustkorb, der nicht von dem Marsch herrührte. Die Vorstellung von Marlon – denn irgendwie würde er Marlon bleiben, nicht wahr? –, wie er um Atem rang, nach Orientierung suchte und wie sein angsterfülltes Herz immer härter und schmerzvoller gegen viel zu filigrane Rippen donnerte, tat mir weh. So weh, dass ich die Zähne zusammenbeißen musste.
    Er sprach ungerührt weiter. »Der Schwarm vermittelt uns, dass alles in Ordnung ist. Von den anderen können wir uns abschauen, was wir zu tun haben. Das hört sich banal an, aber wir haben in diesem Moment nichts außer unseren Instinkten. Davon hängt alles ab. Außerdem ist das Leben als Vogel gefährlich, erst recht, wenn du die Gefahren nicht kennst, die auf dich warten. Wir werden von den Älteren an einen sicheren Ort gebracht, um zu lernen, dieses Leben zu überstehen.«
    Ich konnte kaum fassen, wie ruhig Marlon blieb, während er mir all das erzählte. Doch er wusste davon nicht erst seit gestern. Er hatte viele Jahre Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er zu mir sprach, sollte es mir leichter machen. Mit lächerlich wenig Erfolg. Mir schwindelte jedes Mal, wenn er von seiner ungewissen Zukunft sprach. Ich hatte das Gefühl, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der solch ein unglaubliches Geheimnis in die Hände gelegt bekam, und verstand den Grund dafür nicht im Ansatz. Er hätte lügen können. So leicht hätte er mir eine glaubwürdige Geschichte erzählen können, mit der ich mich zufriedengegeben hätte. Aber er hatte nicht gelogen, sondern mir die Wahrheit gesagt. Zögernd, ja. Vor Unsicherheit stockend, auch das. Aber ohne eine Lüge. Bedingungslos ehrlich.
    Â»Warum?« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich die Frage laut gestellt hatte. »Warum erzählst du mir das alles? Warum verrätst du mir diese Wahrheiten?« Mir, die dir nicht helfen kann, Marlon! »Mir, und niemand anders?«
    Er blieb stehen und hielt mich an den Schultern fest. »Weil ich will, dass du dich an mich erinnerst, wenn ich es nicht mehr kann. Du, und niemand anders.«
    Ich hätte ihn beißen können, da küssen nicht ausreichen würde, so sehr rührten mich seine Worte. Stattdessen erwiderte ich seinen Blick, verengte die Augen, damit er nicht sah, dass sich Wasser in ihnen sammelte. Kniff die Lippen zusammen, weil ich befürchtete, sie würden sonst zittern.
    Plötzlich wandte er sich mit einem gezischten Fluch ab, verbarg das Gesicht hinter einer Hand und gestikulierte, als würde er gleich auf den nächsten Baum eindreschen und sich nur aus Rücksicht auf mich zusammenreißen. »Verdammt, entschuldige!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.
    Was bitte war denn nun wieder schiefgelaufen?
    Â»Marlon, warte.« Ich lief ein paar Schritte hinter ihm her und berührte ihn an der Schulter.
    Er drehte sich so vorsichtig zu mir um, als würde er befürchten, dass ich nach ihm schlug. Blickte mich an und schien erstaunt über das, was er sah. »Du bist mir nicht böse?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich böse sein?« Verwirrt – okay. Überfordert, verzaubert, verzweifelt – ja, ja, ja. Verliebt – möglicherweise bis ganz bestimmt, da

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