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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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den Zähnen ins Altenheim katapultiert. Und zwar im hohen Bogen mit einer Arschbombenlandung – Omas Wortwahl.
    Dem Pflegeheim gegenüber befand sich eine Metzgerei, wo ich wie immer drei Brötchen mit Mett und Zwiebeln kaufte und dann in meinem Rucksack versteckt in Omas Zimmer schmuggelte. Sie liebte diese belegten Brötchen, auch wenn ihre Ärzte und Pflegerinnen sie davon zu überzeugen versuchten, dass rohes Fleisch in ihrem Alter einem Suizidversuch glich. Oma sah das anders. Sie wäre vermutlich lieber an einer Salmonellenvergiftung oder Toxoplasmose gestorben statt an Sehnsucht nach ihren Mettbrötchen. Zumindest redete ich mir damit mein Gewissen rein.
    Charakter und Lebenslauf meiner Oma Elli irritierten vermutlich ein Gros der Menschen, aber das war nichts im Vergleich zu dem Moment, wenn man sie zum ersten Mal sah. Sie scherzte, man hätte ihr für den dritten Herzinfarkt, den sie bei den anderen Heimbewohnern verursachen würde, eine Prämie versprochen. Selbst ich musste jedes Mal schlucken, wenn ich ihr Zimmer betrat, sie sich langsam in meine Richtung drehte und lächelte.
    Der zweite Schlaganfall hatte ihre linke Körperhälfte vollständig gelähmt, was dazu führte, dass ihr Gesicht zu einer ständigen Fratze verzogen war. Die rechte Gesichtshälfte sah weitgehend normal aus, was die linke umso grotesker wirken ließ. Dieses Auge stand weit offen, selbst im Schlaf. Es schien wie aus der Höhle gepresst, als könnte es durch die kleinste Erschütterung herausplumpsen. Der Eindruck wurde durch die Haut über den Wangen noch verstärkt, die das Unterlid nach unten zog und am Kinn schlackerte wie bei einem Basset. Der linke Mundwinkel hing ebenfalls nach unten und die Lippen waren geöffnet, sodass Oma immer ein Tuch benötigte, um den Speichel abzuwischen.
    Â»Ich sehe nicht nur aus wie ein Gargoyle, ich spucke sogar Wasser«, hatte sie einmal gesagt. Diesen Satz sollte man mal versuchen nachzusprechen, während man seine linke Gesichtshälfte mit der Hand daran hindert, sich zu bewegen, und gleichzeitig die Zunge zwischen die Zähne klemmt. Nach wenigen Sekunden muss man unweigerlich lautstark Speichel einsaugen, damit er einem nicht über die Lippen tropft. Was auch immer meine Oma von sich gibt, es klingt ungefähr so.
    Â»Nach dem Theater, das dein Vater veranstaltet hat«, begrüßte sie mich und verengte konzentriert ihr gesundes Auge, »könnte man meinen, du würdest nach deinem Unfall aussehen wie ich.«
    Ich musste lachen. Das war typisch für meine Oma. Sie spürte meine Beklemmung, wenn ich ihr kleines, abgedunkeltes Zimmer betrat, und jedes Mal nahm sie sie mir durch eine ihrer schwarzhumorigen Bemerkungen.
    Ich ging zu ihrem Sessel und drückte ihre Hand. »So schlimm war es nicht, ich hatte Glück. Was liest du da? Die Rentner-Bravo, Apotheken-Umschau?«
    Sie winkte ab und stopfte das Magazin, das eben noch in ihrem Schoß geruht hatte, zwischen ihren Oberschenkel und die Armlehne. Ich konnte nur erkennen, dass es eine Esoterik-Zeitschrift war. Esoterik? So was hatte ich nun wirklich nicht bei meiner Oma erwartet.
    Â»Kein Glück«, nuschelte sie, schüttelte dann aber den Kopf, als hätte sie Unsinn geredet. »Natürlich hattest du Glück, und was für eins. Stimmt es, was sie im Radio sagen? Dass es Sabotage war?«
    Ich nickte, das hatte ich auch gehört, doch darüber reden wollte ich nicht. Die Presse hatte lediglich die Information gebracht, dass die Schienen manipuliert worden waren, was zur Entgleisung geführt hatte. Wie, warum und wer verdächtigt wurde, geriet nicht an die Öffentlichkeit, vermutlich, um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden.
    Oma streichelte meine Hand und für einige Augenblicke schwiegen wir gemeinsam.
    Dann seufzte sie. »Ich wusste, dass etwas passieren würde.«
    Â»Was meinst du?«
    Â»Ich habe viele schwarze Vögel gesehen. Unheilvolle Vögel.«
    Darauf wusste ich nicht mehr zu erwidern als ein »Hm«. Meine Oma war nie eine abergläubische Frau gewesen und plötzlich faselte sie von Unheil bringenden Vögeln und las Esoterik-Quatsch?
    Â»Sie suchen etwas«, fuhr sie fort. »Oder jemanden. Sie erinnern mich an jemanden. Aber an wen nur?«
    Omas Erinnerungen waren seit dem Schlaganfall löchrig. Momente aus ihrer Kindheit sah sie manchmal so deutlich vor Augen, als wären

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