Himmelsfern
sie erst gestern geschehen, wusste dafür aber oft nicht, was am Tag zuvor passiert war. Manche dieser Erinnerungen schienen unter Leichentüchern zu liegen, die auf den richtigen Schlüsselreiz hin verschwanden, worauf das Darunterliegende meine Oma gelegentlich schwer überforderte.
»Ich sehe sie über der Stadt kreisen«, flüsterte sie, »höre ihre Schreie. Sie geben nicht eher auf, bis sie gefunden haben, wonach sie suchen.«
»Oma, Vögel zerstören keine U-Bahn-Gleise.«
Sie versuchte, unwirsch den Kopf zu schütteln, wobei ihr Kinn immer in Richtung rechter Schulter zuckte. »Das weià ich selbst, Noa. Hältst du mich für senil?«
Ich zögerte bei dieser Frage, aber sie erwartete keine Antwort.
»Wer dem Tod ins Auge gesehen hat, sieht und hört Dinge, die andere nicht bemerken. Seit dem Schlaganfall habe ich manchmal gewisse ⦠Ahnungen. Nein, eigentlich hatte ich sie immer schon. Habe aber lange nichts drauf gegeben.«
Mein erster Impuls war, ihre Worte als die Absonderlichkeiten einer alten Frau abzutun. Einer sehr alten Frau, die klinisch tot gewesen war. Aber mir fiel mein Traum von letzter Nacht ein sowie die Stimme, die ich gehört hatte, als ich in die Unglücksbahn gestiegen war. Es prickelte an meiner Stirn und meinen Schläfen, als würde mir die Farbe aus dem Gesicht rinnen. Ich bekam nur ein Flüstern zustande. »Oma, glaubst du ⦠an Engel?«
Das Lächeln, mit dem sie antwortete, war das skurrilste Bild, das ich je gesehen hatte, und wunderschön, weil es aus reiner Ehrlichkeit gemacht schien. Könnte ich malen, hätte ich es mit Bleistift oder Pinsel festgehalten, doch da ich dafür kein Talent besaÃ, ertappte ich mich bei der Ãberlegung, wie ich dieses Lächeln in meinen Tanz mit dem Feuer einflechten konnte.
»Ich versuche herauszufinden, welche Bedeutung die Vögel haben«, sprach Oma weiter und zog das Esoterik-Heft unter ihrem gelähmten Oberschenkel hervor. »Aber alles, was ich finde, klingt nach dem Gewäsch gelangweilter Hausfrauen.«
»Ich habe diese Nacht auch von einem schwarzen Vogel geträumt«, gab ich zu. Oma hakte nach und so erzählte ich ihr alles; angefangen bei der Stimme, die mich vor dem Unfall warnen wollte, bis hin zu dem jungen Mann, dem ich auf der Spur war.
Oma lauschte gebannt und wiegte dann den Kopf. »Das passt nicht zusammen. Die Vögel, von denen ich rede, scheinen mir keine Engel zu sein, die Menschen schützen. Sie sind gefährlich. Sie bringen den Tod, seelischen Tod. In ihren Augen ist die Grausamkeit des Himmels.«
Ich schauderte. Nicht weil Oma Unsinn redete, wie so viele der Heimbewohner, sondern weil ich Angst hatte, es könnte wahr sein. So gerne ich alles als Humbug abgetan hätte, es fiel mir erschreckend schwer. Diese Vögel gefielen mir nicht. Ich wollte weder über sie sprechen noch etwas über sie wissen â und erst recht nicht von ihnen träumen. Ich flocht einen Käfig aus Omas verletztem Geist und sperrte die unheimlichen Federviecher hinein. Sie waren nicht existent, nichts als ein Hirngespinst.
Mir fiel auf, dass die Brötchen noch in meinem Rucksack lagen, Oma hatte gar nicht danach gefragt, was ungewöhnlich war. Ich lenkte uns beide ab, indem ich meine Mitbringsel auspackte, aber auch kauend sah ich Oma weitergrübeln. In ihrem offen stehenden Auge, das von der Salbe, die es vorm Austrocknen schützte, milchig glänzte, schienen sich Schlieren zu bewegen. Schatten schwarzer Vögel, die über ihr kreisten.
Zum ersten Mal hatte ich ernsthaft Angst, dass sie sterben würde. So blieb ich an diesem Tag lange bei ihr. Ich half ihr, das Mittagessen zu verputzen, obwohl wir beide von den Brötchen satt waren, schob sie danach im Rollstuhl durch den Park und bedachte jeden mit bösen Kommentaren, der es wagte, sie anzustarren: »Gaffen macht ânen Euro!«
Als ich zu meinem Vorstellungsgespräch aufbrechen musste, bat Oma mich inständig, sehr vorsichtig zu sein und auf mich aufzupassen. Ich verlangte dasselbe von ihr, wenn auch nur in Gedanken.
Je stärker ich versuchte, die schwarzen Vögel aus meinem Kopf zu verscheuchen, desto präsenter schienen sie. Auf dem Weg durch die Stadt lieà ich mich von lauter Musik aus dem MP3-Player berieseln, die jedes Vogelsingen übertönte. Als ich aus dem Bus stieg und in die StraÃe einbog, die zur
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