Himmelsfern
Mikrowelle drehen. Mit Nudeln, Chips und Instant-Chai-Latte machte ich mich vor dem Fernseher breit und verschickte SMS an Rosalia, Lukas und Dom.
Nachdem ich gegessen hatte und das TV-Programm sich als unzumutbar erwies, beschloss ich, früh schlafen zu gehen, und begab mich in mein Zimmer. Beim Zuziehen der Vorhänge bemerkte ich eine Silhouette im Hof. Zuerst dachte ich, es sei Dominic, doch die Person dort unten war gröÃer und kräftiger. Gesicht und Haare verbargen sich unter einer Kapuze â kein Wunder, denn es regnete schon wieder. Sicher war es einer der Nachbarn, denn der Schatten floss Richtung Treppe, die in den Keller führte, und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich überlegte, ob es vielleicht Frau Martin gewesen war, die ihren Kater noch immer nicht gefunden hatte. Im Hausflur haftete inzwischen ein Aushang mit einem Foto des grau getigerten Stevens und mit der Bitte, bei der Suche zu helfen. Ich beschloss, mir von unserer Nachbarin eine Kopie zu holen und in der Tierhandlung aufzuhängen.
Nach der Zeit im Krankenhaus freute ich mich auf mein Bett und die Ruhe, die ein eigenes Zimmer ohne Nachtschwesternbesuche mit sich brachte. Und so war es kein Wunder, dass ich innerhalb von Minuten einschlief.
Jedoch erwachte ich nur wenige Augenblicke darauf wieder. Mein Herz raste, aber ich konnte mich an keine schlechten Träume erinnern. Nur das Gefühl eines Vakuums um mich herum war zurückgeblieben. Als triebe ich schwerelos im All. Unfähig, eine Richtung zu bestimmen, unfähig, meine Glieder zu bewegen. Ich wollte wissen, was ich geträumt hatte, und schloss die Augen, fischte in meinem Geist nach den zerrinnenden Erinnerungen. Mir fiel ein Geräusch ein, von dem ich geträumt hatte. Ein helles Singen, wie von einer Metallkette, die schnell herumgewirbelt wird. Dahinter eine Stimme, kaum zu verstehen.
Nicht weitergehen!
Nicht einsteigen!
Und dann war da plötzlich ein groÃer Vogel, dessen Schatten über mich hinwegfloss. Er schrie auf. Das metallische Singen ging in ein Kreischen über, das ich nur zu gut kannte. Das Kreischen der U-Bahn!
Ich schoss in die Aufrechte, schlug auf den Schalter meiner Nachttischlampe und schüttelte den Kopf, um die beschworenen Traumbilder wieder zu vertreiben. Doch waren sie eben kaum zu erahnen gewesen, schienen die Erinnerungen nun plötzlich tranig und klebten an mir.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis ich wieder einschlafen konnte.
Wer erfuhr, dass mein Vater Altenpfleger war und meine GroÃmutter in einem Heim lebte, der fragte meist irritiert nach, warum mein Vater die Pflege seiner Mutter nicht selbst übernahm. Die zwei hielten grundsätzlich eine Stadt Abstand zueinander, was beiden ein enormes Bedürfnis war und den Familienfrieden sicherstellte. Es war nicht so, dass sie sich nicht mochten. Sie liebten sich. Man durfte sie nur nicht dazu drängen, sich länger als fünfzehn Minuten im gleichen Gebäude aufzuhalten.
Auf dem Weg zu Oma Elli dachte ich darüber nach, ob ich das schwierige Verhältnis zwischen ihr und Papa vielleicht noch verschärft hatte. Omas Mann war früh gestorben, ich hatte meinen GroÃvater nie kennengelernt. Oma hatte den Friseursalon nach seinem Tod allein weitergeführt. Auch wenn sie finanziell immer dicht am Abgrund tanzte, hatte sie sich einen Verkauf nie vorstellen können. Der Betrieb war ihr Ein und Alles, das war schon so, als GroÃvater noch am Leben gewesen war. Papa hatte den gröÃten Teil seiner Kindheit im Hinterzimmer des Salons verbracht, wo er sich leise zu verhalten hatte. Bis heute konnte er es seiner Mutter nicht verzeihen, dass nie Zeit für ihn gewesen war. Für mich allerdings nahm Oma sich diese Zeit und es schien, als wolle sie alles, was sie bei Papa verpasst hatte, bei mir nachholen â sei es durch Geschenke, die sie sich nicht leisten konnte, oder Zuneigung, obwohl niemand zuvor geglaubt hatte, dass sie überhaupt in der Lage war, zärtliche Gefühle zu empfinden, geschweige denn diese zu zeigen. Freunde hatte sie nie gehabt und Kunden wählten damals die Bezeichnung frostig, um sie zu beschreiben. Womöglich verwöhnte sie mich aus Frustration, weil mein Vater sich über ihren Wunsch, als Friseurmeister den Laden zu übernehmen, stur hinweggesetzt hatte. Nach ihrem ersten Schlaganfall hatte sie schweren Herzens verkaufen müssen. Der zweite hatte die rüstige alte Dame mit den Haaren auf
Weitere Kostenlose Bücher