Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
Vom Netzwerk:
hätte.
    Mein Vater war längst wieder daheim. Ich hörte Schritte aus seinem Schlafzimmer, als wir die Wohnung betraten, und während wir uns im Bad abwechselten, hätte ich schwören können, dass er hinter der Tür stand und lauschte. Sollte er ruhig. Wir waren zu erschöpft, um etwas zu tun, das einen unsittlichen Eindruck erwecken könnte. Tatsächlich nickte ich bereits mehrfach kurz ein, als Marlon sich noch die Haare abtrocknete. Gefangen zwischen Schlafen und Wachsein sah ich, wie er aus dem Fenster blickte. Er wirkte unsagbar traurig, aber ich war zu müde, um ihn zu trösten.
    Mitten in der Nacht erwachte ich aus einer traumdurchsetzten Leichtschlafphase, weil ich eine murmelnde Stimme hörte.
    Â»Was hast du erwartet?«
    Ich rieb mir die Augen und brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass ich im Schlaf gesprochen hatte und davon wach geworden war.
    Marlon drehte sich zu mir. »Einen Ausweg«, flüsterte er. »Ich war ein naiver Idiot. Ich dachte, sie wüsste eine Möglichkeit, wie wir … wie ich …« Er legte einen Arm über sein Gesicht. »Sie hat mir von sich erzählt, weißt du? Sie verwandelte sich als junges Mädchen in einen Vogel, kehrte aber zurück. Sie verliebte sich in einen Menschen, heiratete und bekam ein Baby. Stephan Olivier.«
    Â»Und dann hat sie ihre Familie wieder verlassen?«
    Marlon schüttelte den Kopf. »Ihr Mann war ein kranker Mensch, der sie kontrollierte, einengte und schließlich brutal wurde. Er warf ihr ihren Freiheitsdrang vor und die Sehnsucht nach dem Himmel, die sie immer wieder überkam, und nahm ihr schließlich ihren Sohn weg. Das Kind war damals gerade erst zwei Jahre alt. Sie hat mir erzählt, dass der Kleine Autos liebte. Bei allen Kinderliedern musste sie die Texte ändern und von Autos singen.«
    Ich lächelte freudlos. Das war also die Erklärung für das merkwürdige Lied.
    Â»Sie suchte nach ihm«, fuhr Marlon fort, »viele Monate, doch fand ihn nicht. Irgendwann gab sie auf, verwandelte sich und flog zurück zu den Harpyien. Aber der Wunsch, ihren Sohn zu sich zu holen, hat sich nie gelegt.«
    Ich musste sehr schwer schlucken. »Doch den hat sein schrecklicher Vater in die Hände der Huntsmen gegeben, aus Hass auf die Harpyien, die ihm seine Frau weggenommen haben.«
    Â»So wird er es gesehen haben«, bestätigte Marlon. »Vielleicht war er ein Mistkerl, mag sein. Oder aber auch nur … von ihr besessen.«
    Â»Von ihrer Magie, meinst du?«
    Er antwortete nicht.
    Ich schob den Arm von seinem Gesicht, um ihn anzusehen. »Und das macht dir Angst?«
    Â»Nein, Noa.« Selbst in der Dunkelheit sah ich, wie Marlons Augen feucht zu glänzen begannen. »Ich habe geglaubt, dass sie nach ihrem Jungen sucht, um ihn zu sich zu holen. Das hat mir Hoffnung gemacht. Von Anfang an, seit ich die Vermutung hatte, dass es sich um Stephan Oliviers Mutter handelte, dachte ich, sie hätte einen Weg gefunden, einen Menschen zu einem von uns zu machen.«
    Mein Herz pumpte einen Schwall Eiswasser durch meine Adern. Ich lag ganz starr. Die Frage pulsierte unausgesprochen zwischen uns: Würde ich ihm folgen? Ins Ungewisse? Nein, schlimmer noch, ins menschliche Nichts?
    Â»Ich würde nicht mit dir kommen«, hörte ich mich wispern. Wie gerne hätte ich etwas anderes gesagt, hätte ich ihm geschworen, bei ihm zu bleiben, wenn es eine Möglichkeit gäbe. Aber wir hatten uns Ehrlichkeit versprochen.
    Â»Ich weiß.« Er strich mir durch die Haare, kämmte meine schulterlangen Strähnen mit den Fingern. »Weil du Noa bist, nicht Magpie. Und das ist gut so, denn darum«, er zögerte, überlegte lange und sprach es dann doch aus, »darum liebe ich dich. Davon abgesehen, gibt es diese Möglichkeit ja auch nicht. Aber man wird doch noch träumen dürfen?«
    Tränen brannten in meinen Augen. »Ich muss doch hierbleiben. Würden wir zusammen gehen, gäbe es für uns keinen Grund zurückzukommen.«
    Â»Genau.« Er lächelte zärtlich, nahm meine Hand und legte sie auf sein Herz. »Ich bleibe trotzdem bei dem Namen Magpie, wenn du nichts dagegen hast. Er passt so gut zu dir und ich muss träumen, so lange ich noch kann.«
    Â»Meine Oma sagt immer, wenn Träume Flügel hätten, würde keiner mehr laufen. Ist das nicht witzig?«
    Â»Sehr witzig«, erwiderte Marlon trocken.

Weitere Kostenlose Bücher