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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Nachbildung einer Frau eine Bewegung tat.
    Zunächst dachte ich, die Statue würde im Windstoß kippen. Marlon vermutete dasselbe, er packte mich grob am Arm und riss mich zurück. Doch dann erkannten wir, dass sie nicht umfiel.
    Â»Sag, dass das nicht wahr ist«, wimmerte ich, aber Marlon reagierte nur mit einem Wort, das ich nicht hören wollte: »Scheiße!«
    Sie ging! Die Frau aus Stein ging auf uns zu!
    Mit bedächtigen Schritten, fast mechanisch, trat sie von dem Podest, auf dem sie gestanden hatte, und kam die Treppenstufen herunter.
    Ich wechselte einen ungläubigen Blick mit Marlon, dem der Mund offen stand. In seinen Augen las ich Erstaunen, etwas Angst, aber auch Faszination.
    Â»Es ist keine Legende«, wisperte er. Als ihm bewusst wurde, dass ich – Legende oder nicht – keine Ahnung hatte, wovon er sprach, erklärte er flüsternd: »Sie sagen, eine zu intensive Verbindung mit den Steinen lässt die Seele selbst versteinern. Darum ist es gefährlich, Steine zu besingen. Weil der Stein immer mehr vom Sänger will. Der Drang, es wieder zu tun, zu singen, tiefer zu singen, wird übermächtig und irgendwann …« Er sah zu der Frau auf, die nun die letzte Treppenstufe hinter sich ließ und auf uns zukam.
    Irgendwann wurde man zu Stein? Wie auch immer, was in mir übermächtig wurde, war der Drang, vor diesem Wesen aus monochromem Grau fortzulaufen. Doch da Marlon stehen blieb, tat ich es auch.
    Â»Sie ist nicht böse«, raunte er mir zu. »Sie wird uns nichts tun. Glaube ich.«
    Glaubte er? Ich lachte kurz und hysterisch auf und hoffte, dass er recht behielt. Die geschlossenen Augen der Erscheinung machten mir Angst. Sie war die Nachbildung einer Frau, gekleidet in eine enge steinerne Hose und eine Bluse, doch der grau melierte Stein wirkte, als wäre die Statue vor Jahrhunderten geschaffen worden. Bei jedem Schritt durchzogen haarfeine Risse ihren Körper. Winzige Steinfragmente splitterten ab, hagelten zu Boden und knirschten unter ihren Füßen. Sie hielt auf Marlon zu, mich schien sie nicht zu beachten. Als sie noch gut einen Meter von ihm entfernt war, blieb sie stehen. Unter dem Knirschen ihres Nackens hob sie den Kopf, ohne jedoch die Augen zu öffnen. Dafür regten sich ihre Lippen. Sie öffnete sie einen Spalt, doch es kam kein Laut heraus, nur etwas Staub.
    Marlon schluckte so laut, dass ich es hören konnte. Dann trat er vor und streckte die Hand aus. Erschrocken griff ich nach seinem Arm, erreichte ihn im gleichen Moment, als er mit den Fingerspitzen die Lippen der steinernen Frau berührte. Sie begann zu summen. Die Stimme drang so tief aus dem Inneren der Frau, dass ich zunächst glaubte, mir das Lied nur einzubilden. Marlon und ich sahen uns an, um zu erfahren, ob der andere es auch hörte. Doch mit jedem Ton wurde es deutlicher, lauter, schallte durch den Saal und durch die Tunnel, bis die Wände es zurückwarfen. Ich kannte das Lied. Es war die eigenartige Version von Twinkle, Twinkle, Little Star.
    Und es tat mir im Herzen weh.
    Â»Hörst du sie sprechen?«, fragte Marlon. Er schloss die Augen, als ich den Kopf schüttelte, und legte seine Hand an die Wange der Steinfrau. »Sie will wissen, ob ich sie wiedererkenne. Ob ich … ihr Sohn bin.« Niedergeschlagen sah er mich an.
    Ich begriff sehr langsam, aber die steinerne Dame schien sich ohnehin nichts aus Eile zu machen. Wenn Marlons Vermutung stimmte, handelte es sich bei ihr um die Mutter von Stephan Olivier, dem Huntsman. Oder eher gesagt … um das, was von ihr noch übrig war. Ich stöhnte auf. Marlon suchte nach Antworten, um einen Weg zu finden, Corbin zu retten, und fand die Mutter seines Erzfeindes. Versteinert! Prima, wirklich ganz prima. Primstens!
    Marlon schien zu gebannt von den Geschehnissen, um sich dessen bewusst zu werden.
    Â»Das erklärt es. Sie besingt die Steine von hier unten. Sie kann hier nicht mehr weg, aber sie erreicht die Steine auch so, weil sie selbst einer ist.« Er schloss erneut die Augen.
    Ich sah, wie seine Lippen sich bewegten, doch ich vernahm keinen Ton. Ich spürte nur ein Vibrieren in der Luft, ein Prickeln auf der Haut und hatte das Gefühl, dass mir diese Empfindungen nicht unvertraut waren, auch wenn ich mich nicht erinnern konnte, sie je zuvor gespürt zu haben. Dann begriff ich, dass Marlon sang. Ich hörte ihn nur darum nicht, weil er sein Lied, seine Antwort

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