Himmelsfern
stapfte ich an ihm vorbei, er folgte mir, schloss die Tür von innen und wandte mir den Rücken zu.
Moment mal. Das konnte nicht sein Ernst sein!
»So kann ich nicht pinkeln.«
»Ich werde dir ganz sicher nicht dabei helfen.«
Scherzkeks. »Ich kann nicht aufs Klo gehen, wenn du im gleichen Raum bist.«
»Dann lass es.«
Ich schnaubte, es klang viel hysterischer, als ich beabsichtigt hatte. Ich musste verdammt dringend aufs Klo â aber doch nicht, wenn er zwei Meter danebenstand! »Bitte lass mich fünf Minuten allein. Oder nur zwei. Eine!«
Marlon schüttelte den Kopf.
»Was denkst du dir eigentlich? Dass ich aus Duschgel und einer Klopapierrolle eine Bombe baue?« Dafür hatte ich eindeutig zu wenige Folgen von Papas Lieblingsserie MacGyver gesehen. Papa. Er fehlte mir so. Die beiden Rasierer, die neben dem Waschbecken lagen, erschienen mir zwar ganz hilfreich, aber solange Marlon mich nicht allein lieÃ, würde ich nicht an die Klingen gelangen.
Er grinste mir über die Schulter zu. »Willst du lieber warten, bis Corbin aufsteht, und es mit ihm versuchen?«
Eher würde ich mir in die Hose machen. »Was ist mit Emma?«
»Die hat die ganze Nacht Wache gehalten und wird bis Mittag schlafen.«
»Weck sie!«
»Vergiss es. Ich gucke nicht, versprochen. Mach jetzt oder mach nicht, aber dann will ich später kein Gejammer hören, wenn du dich vollpinkelst.«
»Arschloch!«, knurrte ich, lieà aber die Hose runter, bemüht, das Handtuch so vor meinen Körper zu halten, dass er nichts sehen konnte, sollte er sich umdrehen.
Ich hörte ihn leise lachen, wieder in diesem melodischen Ton. »Angenehm. Und ich dachte, du stellst dich mir gar nicht mehr vor.«
»Das ist der älteste Witz, den ich je gehört habe.«
»Ich weiÃ. Aber ich dachte, du fühlst dich besser, wenn ich mich auch ein bisschen lächerlich mache. Besser kann ich das leider nicht, da fehlt mir die Routine.«
So peinlich die Sache auch war, in den Eimer pinkeln zu müssen, wäre schlimmer gewesen. Marlon hielt Wort und drehte sich erst wieder um, als ich mich gewaschen und mir die Zähne geputzt hatte. Zu meiner Ãberraschung brachte er mich nicht zurück in meine Zelle, sondern führte mich in eine kleine Küche, die ebenso in den Siebzigern stehen geblieben war wie das Bad. Der PVC-Boden war rissig, die Schranktüren hingen schief in den Angeln oder fehlten gänzlich. Ãber dem Herd deutete eine völlig verkohlte Wand darauf hin, dass die Bewohner eine Sache offenbar noch schlechter konnten, als unschuldige Menschen zu entführen: kochen. Nichtsdestotrotz war es überraschend sauber.
Marlon wies mich an, auf einem der beiden Campingstühle Platz zu nehmen, die an einem klapprigen Plastiktisch standen. Er klaubte Brot sowie ein paar andere Dinge aus den Schränken und befüllte einen Wasserkocher. Wenig später schob er mir zwei mit Nussnugatcreme bestrichene Scheiben Toast hin und platzierte eine Tasse Hagebuttentee daneben. Ich betrachtete den Dampf, der daraus aufstieg, und versuchte, meine Chancen für eine Flucht abzuschätzen. Anscheinend war ich allein mit Marlon. Ob ihn der heiÃe Tee im Gesicht lange genug aufhalten würde, um mir den nötigen Vorsprung zu verschaffen? Ganz sicher â die entscheidende Frage war, ob ich es über mich bringen würde, den Tee dorthin zu befördern.
Sein Seufzen lieà mich zusammenzucken. Marlon griff über den Tisch, nahm sich eine der Toastbrotscheiben und biss hinein. Dann legte er sie zurück auf meinen Teller, kaute und schluckte demonstrativ.
»Ich vergifte dich nicht. Du kannst ruhig essen.«
Das lieà ich mir nicht zweimal sagen und verwarf meine Fluchtpläne fürs Erste. Vielleicht war ich ein Feigling, aber ich konnte ihm einfach nicht das Gesicht verbrühen, nicht einmal im Kampf um meine Freiheit. Ich redete mir ein, dass seine Reaktionszeit meiner sicher überlegen war und meine Angriffsversuche mir höchstens noch mehr Schwierigkeiten verursachen würden.
Das ungetoastete Brot war trocken, krümelte und schmeckte bescheiden, aber mich plagte ein solcher Hunger, dass ich es auch steinhart verschlungen hätte. Kaum war es aufgegessen, legte Marlon mir zwei Müsliriegel hin.
»Schmecktâs?«, wollte er wissen.
Ich antwortete: »Wie Vogelfutter«, was er aus irgendeinem Grund sehr komisch
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