Himmelsfern
Gegenteil. Du weiÃt es nicht, aber er hat mir das Leben gerettet. Während ihr, nein, während du mich erschieÃen lassen wolltest! Er ist nicht der Feind. Du bist es!!!
Noa
Eine Stunde verging, eine weitere. Meine vierte Mail war frei von Anklagen. Stattdessen schilderte ich meine Träume, jeden einzelnen, so detailliert es mir möglich war.
Zufrieden mit deiner Leistung, Marlon? , tippte ich darunter. Doch vor dem Absenden löschte ich den Satz wieder und schrieb stattdessen: Ich schreibe dir morgen Nacht wieder, Noa.
Ich schaltete den Laptop aus, ohne den neuen Account einmal aufzurufen, ging ins Bett und schlief traumlos.
Am nächsten Morgen kam mir meine E-Mail-Aktion schizophren und albern vor, auÃerdem waren mein Nacken und meine Schultern vom stundenlangen Tippen verspannt. Ich beschloss, den ganzen Blödsinn gleich am Abend zu löschen.
Papa war arbeiten und Mama wollte den Tag nutzen, um eine Freundin zu besuchen, ich hatte also den ganzen Tag lang Zeit, mich eingesperrt und nutzlos zu fühlen. Fantastische Aussichten, die nicht besser wurden, als ein Anruf bei Dom ergab, dass er nicht zu Hause war. Also lungerte ich ein wenig vor dem Fernseher herum, nur um festzustellen, dass das Programm mich noch verrückt machen würde. Was eine verunglückte U-Bahn und eine Entführung nicht geschafft hatten â dem Hausarrest, in Kombination mit dem Vormittagsprogramm im Fernsehen, würde es mühelos gelingen, mich in den Wahnsinn zu treiben. Mir war nicht danach, eine DVD anzusehen, und auch Musik schaltete ich nur ein, um nicht hinzuhören. Weil ich nicht rausdurfte, brachte mich jeder Blick in Richtung Fenster zur WeiÃglut. Der verdammte Tag drauÃen schien mich regelrecht zu verhöhnen.
Ich war doch kein Verbrecher, den man einsperren musste! Warum lieà ich mich so behandeln?
SchlieÃlich pfiff ich auf den Hausarrest, schnappte mir meinen Schlüssel und verlieà die Wohnung. Ich wollte meine Eltern nicht provozieren. Der Hausarrest dauerte nur noch zwei Tage und ich wollte ihn keineswegs durch Dummheit verlängern. Zu schnell geriet man durch mangelnde Vorsicht in die berühmten Abo-Fallen, das war bei meinen Eltern sicher nicht anders als bei dubiosen Abzockerunternehmen. Aber ich musste einfach raus! Ich würde zurück sein, ehe Papa nach Hause kam, mein kleiner Ausflug sollte unbemerkt bleiben. Alles, was ich wollte, war die Gewissheit, mich frei bewegen zu können. Nicht eingesperrt zu sein, war seit der Nacht in Gefangenschaft überlebenswichtig für mich.
Ich schlenderte zum Kanal. Dom, Rosalia und ich verbrachten viel Zeit an der Trasse, die kilometerweit am Wasser entlangführte. Dom joggte, Rosalia fuhr Fahrrad und ich lief auf meinen Inlineskates. Beschrieben mag das Szenario idyllisch klingen, doch ich kann versichern, dass dies nicht der Fall ist. Unser Kanal ist dem strengen Modediktat der Stadt unterworfen und trägt bei jedem Wetter grau. In den späten Siebzigern hatte man den natürlich entstandenen Fluss begradigt, um an den Ufern mehr Platz für Wohnsiedlungen zu schaffen. Seitdem flieÃt das Wasser durch ein tief liegendes Asphaltbett, was ihm die Farbe von nassem Pappkarton verleiht, selbst bei Sonnenschein, wenn sich darin eigentlich der blaue Himmel spiegeln müsste. Warum auch immer, das Wasser bleibt immer stur schlammgrau. Aus Sicherheitsgründen war Stacheldraht zwischen dem Kanal und der geteerten Trasse gezogen worden. Der Weg entlang des Wassers war nicht wirklich sehenswert, doch gerade das machte ihn zu einer geeigneten Strecke zum Fahrradfahren und Skaten, denn Spaziergänger traf man hier nur selten an und darum hielten sich auch die Tretminen aus Hundehaufen in Grenzen.
In meinem Schlenderschritt brauchte ich für die Wegabschnitte sehr viel länger als gewöhnlich. Der durch die Hitze aufgeweichte Teer klebte unter meinen Sohlen und machte jeden Schritt zu einer Anstrengung. Ich merkte schnell, dass es zu lange dauern würde, bis zur nächsten Brücke zu spazieren und auf der anderen Kanalseite zurückzugehen. Daher entschied ich, am Rüdenfels, einem verwitterten Denkmal gleich am Wasser, umzudrehen. Doch auch der Weg bis dorthin zog sich in die Länge. Ganz wohl fühlte ich mich nicht. Was, wenn Papa zu Hause anrief und bemerkte, dass ich die Rufumleitung eingeschaltet hatte? Oder wenn er die Strömung im Hintergrund hörte, sollte er es auf meinem
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