Himmelsfern
anstarrten.
»Ich finde sie schön«, beharrte er.
»Es ist eine vergessene Stadt.«
Dem widersprach er nicht. Vielleicht mochte er die Stadt ja gerade, weil sie von der Welt vergessen schien. Möglicherweise wollte auch er etwas vergessen. Oder selbst vergessen werden.
»Aber du solltest hören, wie die Geschichte weiterging.« Ich gab mir alle Mühe, meinen Sarkasmus zu verbergen, was nicht ganz gelang. »Bestimmt wird sie dir dann noch besser gefallen. Der gerettete Junge wuchs nämlich zu einem Mann heran, einem sehr reichen Mann, dem alle Wege offenstanden. Ansehen und Reichtum waren ihm allerdings nicht genug, er wollte immer mehr Macht und akzeptierte keine Grenzen. Er schlug seine Frau, bis sie ihm weglief, verprellte seine Freunde und versoff all das viele Geld seiner Familie. Und eines Nachts vergewaltigte er eine Prostituierte, weil sie sich weigerte zu tun, was er verlangte. Sie schrie um Hilfe und da hat er sie kurzerhand«, ich setzte mir theatralisch einen Finger an die Schläfe, »erschossen. Seitdem steht der steinerne Hund als Mahnmal dort und erinnert uns daran, nicht die Falschen zu retten. Nicht jeder ist es wert, gerettet zu werden.«
Schweigen klang meinen Worten nach. Ich spürte, wie Marlon die Luft nach Worten absuchte, aber keine fand. Ich fühlte mich wunderbar stark im Angesicht seiner Hilflosigkeit und zugleich schämte ich mich dafür. Aber nur ein bisschen.
»Und jetzt will ich wissen, warum ich dir die Geschichte erzählen sollte«, verlangte ich, als ich die Umrisse meines Wohnblocks als grauen Klotz vor dem Azur des Himmels ausmachte. Marlon schien immer nervöser zu werden, er drehte sich ständig um, schaute in alle Richtungen, selbst nach oben, und machte mich dadurch ganz unruhig.
Er blickte mich kurz an, sah dann auf seine Schuhe. »Ich mag Geschichten, darum. Und ich mag es, dich reden zu hören.«
»Tzz«, machte ich abfällig. Sofort erinnerte ich mich wieder daran, wer da neben mir lief. Marlon. Im einen Moment war er freundlich und im nächsten bedrohte er mich.
Ich wollte ihn zurückweisen, als er nach meinem Unterarm fasste, aber mein Körper gefror um mich herum, sodass ich mich ihm nicht entziehen konnte. Hätte er einen Hauch fester zugepackt, wäre ich vermutlich in Panik geraten. Doch seine Hand lag so leicht auf meiner Haut, dass ich meinen Arm jederzeit hätte wegziehen können. Zu wissen, dass ich es theoretisch konnte, beruhigte mich wieder.
»Ich werde bald fortgehen«, murmelte er, meine Hand betrachtend. »Du bist dann in Sicherheit. Bis dahin musst du mir erlauben, dass ich ein Auge auf dich habe. Wir haben dich in Gefahr gebracht, das ist nicht mehr rückgängig zu machen und es tut mir leid. Aber ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert. Ich werde in deiner Nähe sein, so lange es nötig ist. Danach siehst du mich nicht wieder. Ich verspreche es.«
Blut rauschte in meinen Ohren. »Erklär mir diese Gefahr genauer«, hauchte ich. Plötzlich war ich dankbar für seine Hand auf meinem Arm, völlig haltlos wäre ich ins Schwanken geraten.
»Du wirst beobachtet. Mehr kann ich nicht sagen.«
Ich schüttelte den Kopf und er lieà mich los. »Beobachtet? Von wem?«
»Schwer zu erklären.«
Zaghaft meinte ich zu begreifen. Vor allem aber begann ich, ihm zu glauben. »Es ist Corbin, nicht wahr?« Ich ballte die Hände zu Fäusten. »Du hast mich gegen seinen Willen freigelassen. Es gab keine Einigung, oder?«
» Ich war mir sehr einig«, antwortete Marlon mit einem Lächeln.
Ich wies auf sein blaues Auge. »Verstehe. Und dann hat er dich verdroschen.«
Zu meinem Erstaunen fand er das anscheinend komisch, denn er lachte. »Ja, tatsächlich. Ich dachte, mein Schwein pfeift, als er mir eine langte.« Seine plötzliche Entrüstung lockerte meine Anspannung, doch das hielt nur kurz, bis er weitersprach. »Das war das erste und das letzte Mal, dass er mich geschlagen hat. Ich habe ihm daraufhin den Arm ausgekugelt. Muss sauweh getan haben. Schlimmer fand er allerdings, dass ich ihm das Versprechen abverlangt habe, dich in Ruhe zu lassen, bevor ich bereit war, ihm den Arm wieder einzurenken.«
Ich tippte mir demonstrativ an die Stirn. »So eine sympathische Familie.«
»Normalerweise sind wir weniger rabiat.« Er klang ernsthaft zerknirscht, aber ich konnte darüber nur freudlos
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