Himmelsfern
die besten Erdbeeren meines Lebens, keine anderen hatten je die SüÃe erreicht wie die roten Früchte, die ich naschte, während ich meinen kleinen Bruder ansah, der erst ein paar Stunden alt war und noch nicht einmal einen Namen hatte. Damals nannte ich ihn Schrumpelchen und das war so viel liebevoller gemeint, als es klingt.
Wenn sich sein Geburtstag jährt, konzentriere ich mich immer darauf, wie diese Erdbeeren geschmeckt haben. Dom, der als Einziger davon wusste, fand das komisch, er verstand die Logik dahinter nicht, dabei ist es ganz einfach: Die Erinnerung macht deutlich, dass es nie wieder wie früher sein wird, aber sie ist süà genug, um mich nicht fertigzumachen.
In diesem Jahr fiel Joels Geburtstag erneut auf einen Sonntag, doch diesmal regnete es in Strömen. Ein kraftvoller Sommerschauer, schwer von diesem unangenehmen Geruch, der durch die Kombination von Regen und warmem Asphalt entsteht. Es riecht nach Ozon, sagen viele, aber ich glaube nicht, dass man Ozon riechen kann.
Papa und ich wollten am Vormittag zum Friedhof fahren, als plötzlich Frau Martin in der Tür stand.
»Ist es dir recht, wenn sie mitkommt?«, fragte Papa und wühlte in der Kommode nach seinem Schlüssel. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich glaubte, er wurde dabei rot.
»Natürlich.« Es wunderte mich allerdings, das musste ich zugeben.
Er sah mich schelmisch an. »Ich meinte nicht dich, sondern Corinna. Wer weiÃ, ob sie die Nähe einer pubertierenden Göre wie dir überhaupt aushält.«
Corinna Martin grinste. Sie wusste ebenso wie ich, dass Papa SpäÃe machte. Wie konnte sie ihn schon so gut kennen?
»Ich glaube, Corinna freut sich«, meinte ich fragend.
Sie zwinkerte. »Das tut sie. Wirklich, Noa, ich freue mich.«
Ich überlieà Corinna meinen Stammplatz auf der Beifahrerseite des Bullis, setzte mich auf die Rückbank und beobachtete, wie die Fäden aus Regenwasser an den Scheiben herunterliefen. Während der Fahrt stellte ich erstaunt fest, dass mein Vater und Frau Martin sich in der letzten Woche getroffen haben mussten, denn sie empfahlen mir einstimmig einen Kinofilm, der erst seit ein paar Tagen lief. Ãberhaupt schien sich etwas zwischen den beiden verändert zu haben. Die dünnen Linien um die Augen meines Vaters sahen wieder wie Lachfältchen aus, und obwohl die Stimmung angesichts des Friedhofsbesuchs verhalten blieb, glaubte ich, ein angenehmes Gefühl von Nähe zu spüren, das zuvor nicht da gewesen war.
Als wir auf dem Parkplatz vor dem Friedhof ausstiegen und Papa den Bulli abschloss, trat ich dicht an ihn heran und hielt seinen Schirm über uns beide. »Was läuft da zwischen euch?«, flüsterte ich.
Er lächelte verzerrt â womit ich meine, dass er nicht nur einen Mundwinkel hochzog, sondern tatsächlich ein bisschen glücklich aussah und ein bisschen wie nach dem Biss in ein Stück Seife. »Wie alt bist du, Noa?«
»Siebzehn, das weiÃt du.«
»Ja, ich weià nur nicht, wie jugendfrei ich meinen Bericht formulieren muss, damit du zufrieden, aber nicht überfordert bist.«
Rasch hob ich die freie Hand. »So genau wollte ich es gar nicht wissen, verschone mich mit Details. Ich frage mich nur, ob das letzte Woche wirklich alles Ãberstunden waren, und falls nicht, warum ich gar nichts davon mitbekommen habe.« Vielleicht, weil mein Fokus auf meinen eigenen Problemen gelegen hatte.
Papa sog Luft durch die Zähne. »Ich wollte nicht, dass deine Mutter etwas davon erfährt. Sie ist so ⦠instabil, so leicht aus der Fassung zu bringen.«
Pah. Als ob sie sich für Papas Neue interessieren würde. »Mach dir um Sybille keine Sorgen. Die hält was aus.«
Papa boxte mir spielerisch gegen die Schulter. »WeiÃt du, ich habe den Eindruck, dass ich sie in der Hinsicht besser kenne als du.«
Ich boxte zurück. Gab nicht zu, dass ich k.  o. war, weil er recht hatte und das einen Moment lang viel mehr wehtat, als ich mir eingestehen wollte.
Der Regen half, es erträglicher zu machen, als es war. Hinter dem grauen Schleier wirkte alles irgendwie surreal, und dass der Himmel so tief hing, als hätte er sich in den Baumkronen verheddert, lieà Joel an diesem Tag nicht so weit weg erscheinen.
Während wir zu seinem Grab gingen, achtete ich kaum auf die Menschen um uns herum. Jemand kam uns entgegen, das Gesicht unter einem Regenschirm
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