Himmelsfern
verborgen. Die schlurfenden Schritte erinnerten mich an Marlon. Vor einem Grab, auf dem noch Kränze und Gestecke lagen, kniete eine Gestalt im durchnässten Kapuzenshirt. Die hängenden Schultern erinnerten mich an Marlon. Von irgendwo ertönte ein leises Schimpfen und ein für den Ort unangebrachtes Fluchen über das Wetter. Die Stimme erinnerte mich an Marlon.
Marlon, Marlon, Marlon. Seit er verschwunden war, schien er überall zu sein. Sein Gesicht verfolgte mich, um sich jedes Mal, wenn ich genauer hinsah, in das eines anderen Menschen zu verwandeln wie die Spiegelung in einer Pfütze, die zur eigenen Reflexion wird, wenn man sich darüberbeugt. Meinen Vater zu sehen, der die Hand seiner Freundin hielt und ihre Finger streichelte, machte mir bewusst, wie einsam ich mich fühlte. Ich schämte mich für den Anflug von Neid und würgte so lange, bis ich das Gefühl hatte, diese Emotionen runtergeschluckt zu haben, um sie nun zu verdauen.
Am Grab angekommen, blieben wir auf Abstand. Papa betete, still und nur für sich. Corinna schloss zumindest die Augen. Ich trat von einem Fuà auf den anderen und bereute wie jedes Jahr den Umstand, dass ich nichts dabeihatte, was ich aufs Grab legen konnte, um wenigstens irgendetwas zu tun. Aber was sollte ein Baby mit Blumen? Ein einziges Mal hatte ich ein Kuscheltier mitgebracht, nur um es wenig später löchrig und verdreckt wiederzufinden; es hatte mich an einen Horrorfilm erinnert und ich schlief danach nächtelang schlecht. Ich streichelte dem Engelchen auf dem Grabstein über die kalte Wange. Als ich mich umdrehte, hatte mein Vater beide Arme um Corinna geschlungen. Ich kam mir plötzlich fehl am Platz vor, wie eine zertretene, bunte Getränkedose auf einem dieser tragisch romantischen Schwarz-WeiÃ-Fotos. Und war auf irritierte Weise glücklich darüber.
»Habt ihr etwas dagegen, wenn ich eine Runde spazieren gehe?«, fragte ich, um ihnen etwas Zweisamkeit zu schenken.
Papas Lächeln wurde breiter. »Wir treffen uns dann gleich am Café vor dem Friedhof, in Ordnung? Setz deine Kapuze auf, du begossener Dackel.«
»Pudel, Papa.« Ich gehorchte, obwohl meine Haare bereits so nass waren, dass sie mir wie Spaghetti an der Kopfhaut klebten. Ein Schwall Wasser, der sich in der Kapuze gesammelt hatte, lief mir den Rücken herab. Schaudernd trottete ich die Rollsplittwege entlang, den Kopf gesenkt und zwischen die Schultern gezogen. Ich fühlte mich zerrissen zwischen dem Hochgefühl meinen Vater betreffend und meinem eigenen Kummer.
Schwer zu sagen, was meine Aufmerksamkeit plötzlich auf den unscheinbaren Grabstein zog, doch wie von leisen Stimmen gelockt ging ich näher. Ich trat von hinten an den Stein, sodass ich den darauf festgehaltenen Namen nicht sehen konnte, und bemerkte am Rande, dass das Grab verwildert war. Bei dem Versuch, über den hüfthohen Grabstein zu schauen, um zu erfahren, wer hier ruhte, berührte ich ihn. Meine Hand traf auf Moos, Gelbflechten und auf irgendetwas anderes, das ein Surren durch meinen Arm jagte, ähnlich dem schmerzhaften Klingeln, wenn man sich heftig den Ellbogen anstöÃt. Ein Summen erfüllte meine Ohren. Für einen Moment war ich zu schockiert, um mich zu bewegen. Ich hielt mir den Arm und fragte mich, ob ich gerade tatsächlich einen elektrischen Schlag von einem Grabstein bekommen hatte. Dann hörte ich die Stimme. Sie war zu leise, die Worte zu verschlungen, als dass ich etwas hätte verstehen können, aber ich erkannte eine Melodie. Da sang eine weibliche Stimme ein Lied. Twinkle, Twinkle, Little Star oder zumindest etwas Ãhnliches. Ich sah mich um, wurde mit jedem Herzschlag unruhiger. Aber hier war doch niemand!
Oder doch? Hinter den Hecken, die den ganzen Friedhof einzäunten, machte ich Bewegungen aus. Es raschelte im Blätterwerk, als böge jemand Zweige auseinander. Ich starrte in die Richtung und hörte jemanden davonlaufen. Das beruhigte mich jedoch kein bisschen, denn in der regennassen Luft schwang immer noch dieser Gesang, der da nicht hingehörte. Und dann vernahm ich ein seltsames Ploppen, als lieÃe jemand eine Papiertüte knallen.
Das war mir alles nicht geheuer. Ich wandte mich ab, entfernte mich, so schnell ich konnte, ohne zu rennen, und musste gegen den Drang ankämpfen, mich über die Schulter umzusehen. Es zog mich zurück zu meinem Vater, allerdings hätte ich dazu den halben
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