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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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der Fahrer hupte nur und machte einen Schlenker. Das Auto schoss so nah an Marlon vorbei, dass er gegen den Kotflügel schlagen konnte. Schmutzwasser spritzte von den Reifen bis in sein Gesicht und er brüllte dem Wagen einen derben Kraftausdruck hinterher. Dann fasste er mich am Arm und wir liefen weiter.
    Vor einem Mehrfamilienhaus blieb er unvermittelt stehen, hielt sich einen Finger an die Lippen und lauschte. Ich hörte nichts, aber Marlon fluchte erneut, ballte die Faust und schlug auf drei Klingeln in den oberen Stockwerken.
    Â»Die Wahrheit, Noa!«, zischte er mich an. »Warum bist du mir gefolgt?«
    Wie bitte? Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Spinnst du jetzt? Wie kommst du denn darauf? Ich bin dir nicht gefolgt, ich war nur auf dem Friedhof, weil –«
    Der Türöffner summte, Marlon drückte die Tür ein Stück auf, blieb aber vor dem Eingang stehen. »Weil? Lüg mich nicht an!«
    Mir gelang nur ein Flüstern. »Mein Bruder liegt dort begraben.«
    Marlon verengte die Augen, er forschte in meinem Gesicht, analysierte meine Mimik. Sein Misstrauen schmerzte mehr als meine gequetschten Finger zwischen seinen.
    Â»Verdammt, glaub mir endlich, ich hab dir schließlich geholfen.«
    Er nickte, Wasser lief über sein Gesicht. Hastig schob er mich ins Haus und die Kellertreppe hinab. Er wies mich mit einer Geste an, mich unter die Treppe zwischen zwei abgestellte Kinderwagen zu hocken, und ich gehorchte. Er blieb einen Moment am Fuß der Treppe stehen, lauschte und setzte sich dann neben mich, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Stirn in den Händen, als wäre ihm der Kopf zu schwer geworden.
    Â»Mach dein Handy aus«, wisperte er.
    Ich zog es aus der Hosentasche, wischte die Feuchtigkeit vom Display und stellte es lautlos. Dann tippte ich hastig eine SMS an meinen Vater, behauptete, Freunde getroffen zu haben und am Abend nach Hause zu kommen. Keine zwanzig Sekunden später antwortete Papa mit einem Zwinkersmiley. Ich starrte die drei Zeichen an und fühlte mich verloren.
    Â»Was geht hier eigentlich vor?«, hauchte ich, den Blick immer noch auf das Handy gerichtet.
    Marlon rutschte etwas näher an mich heran. »Oliviers Leute haben mir auf dem Friedhof aufgelauert«, antwortete er leise. »Vermutlich denken sie spätestens seit deinem tollen Einsatz, du gehörst zu uns.« Sein abfälliges Kopfschütteln traf mich an einer Stelle, wo es mir eigentlich nichts anhaben sollte. Ich gehörte nicht zu ihnen. Nicht zu ihm. Dabei würde ich das vielleicht gerne.
    Â»Was denkst du?«, fragte ich. »Glaubst du wirklich, ich mache gemeinsame Sache mit denen ?«
    Er sah mich nur für den Bruchteil einer Sekunde an, ehe er wieder auf seine Hände schaute, aber ich erkannte das Flehen in seinem Blick. Er schloss es nicht aus – zu viel sprach dafür –, wünschte sich aber, dass dem nicht so war. Und dann sagte er: »Wenn, dann ist es mir inzwischen egal.«
    In diesem Moment lernte ich etwas, das ich zuvor nicht zu begreifen imstande gewesen war, weil sich manches erst verstehen lässt, wenn man es selbst erlebt. Ich lernte, dass das Gefühl, jemanden zu lieben, nichts mit Zärtlichkeit zu tun haben muss. Ganz im Gegenteil, es kann gewaltsam sein, brutal und quälend, von tausend Zweifeln durchsetzt. Es ist fein und schmerzhaft, wie die spinnennetzartigen Narben auf Marlons Fingerknöcheln, die er trug, weil er meinte, die Mauer verdreschen zu müssen, nachdem er mich abgewiesen hatte. Ich kannte diesen Jungen kaum, wie konnte ich annehmen, ihn zu lieben? Aber ich tat es doch, wie konnte ich es also anzweifeln? Mein Herz zog sich so stark zusammen, dass ich glaubte, einen Stein in der Brust zu haben, mit dem man jemanden erschlagen konnte. Es jagte ein Beben durch meinen Körper, als schwämmen spitze, kalte Kiesel in meinem Blut, und darum zitterte meine Hand, als ich sie über seine legte, um die zarten Narben zu fühlen.
    Marlon tat zwei hastige Atemzüge, die so laut waren, dass ich Angst bekam, jemand würde sie hören und uns finden, dann vergrub er das Gesicht an meiner Schulter und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich wollte ihm so gerne übers Haar streichen. Ihm sagen, dass alles gut werden würde. Ihn trösten und schützen vor all dem mir Unbekannten da draußen, was jederzeit durch seine Tür treten konnte und nicht einmal von einem

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