Himmelsfern
machte.
Aber diesen einen, ersten Kuss lang machte ich keine Fehler.
Emma hatte uns nach langem Gezeter und einem Wutanfall ihr Auto geliehen, einen uralten VW Scirocco, den nur noch der Rost zusammenhielt. Auf dem Handschuhfach klebte ein Sticker mit der Aufschrift Höschen runter und Maul halten und auf dem Kofferraum prangte die Warnung Ich bremse auch für Frauen . Das Radio funktionierte nicht, aber im Kassettendeck leierte ein Band von der französischen Sängerin Desireless. Marlon grölte den Refrain ihres berühmten Hits Voyage, Voyage mit und machte Vollarsch, Vollarsch daraus. Ob er mich zum Lachen bringen wollte, sich so über Emma lustig machte oder sich selbst verhöhnte, war mir nicht klar. Alles gelang vortrefflich. Viel zu schnell hielt er in meinem Block und brachte mich zur Tür, wo er meine Stirn küsste, so lange, als würde er versuchen, das Gefühl in mein Gehirn zu brennen.
»Wie viel Zeit brauchst du?«, fragte ich mit geschlossenen Augen.
Er überlegte zu lange.
»Du hast nicht vor, dein Auto beim Friedhof abzuholen, oder?« Ich befreite mich aus seiner Umarmung und musterte ihn skeptisch.
»Woher weiÃt du, dass es dort steht?«
Na prima, er wich mir aus. War nicht langsam mal Zeit für etwas Neues? »Du warst dort, wo sollte es sonst sein? Versprich mir, dass du es nicht holst. Die werden da auf dich warten.«
Er legte den Kopf schief und grinste. »Wer bist du, dass du meinst, mir sagen zu dürfen, ich solle mein geliebtes Auto in der Hand des Feindes lassen? Hast du kein Herz?«
»Doch, aber darin ist beim besten Willen kein Platz für einen verkratzten Sportwagen. Ich komme nachher zu dir in den Garten, und wenn du nicht da bist â¦Â«
»Dann?«
»Dann«, ich gestikulierte unbeholfen mit den Armen, »dann gehe ich wieder nach Hause.«
Marlon pfiff durch die Zähne. »Das wäre hart. Ich glaube nicht, dass ich das riskieren kann.«
Ich wollte ihn spielerisch knuffen, aber plötzlich lag meine Hand flach auf seiner Brust und seine in meinem Nacken.
»Das wäre wirklich hart«, wiederholte er kaum hörbar. Der Kuss, mit dem er jegliches Wort aus meinem Mund verhinderte, war mutiger als unser erster. Tiefer. Und noch ehrlicher. Ich schmeckte Begehren, ernsthaftes Begehren, und musste den Kuss unterbrechen, um nach Luft zu schnappen. Musste das Atmen neu lernen, mit dem Gesicht in seiner Halsbeuge. Er roch ein bisschen nach Zimt und sehr nach Marlon und diese berauschende Mischung kribbelte unterhalb meines Magens.
»Bis später, Magpie«, murmelte er an meinem Ohr und löste sich von mir. Dann ging er und ich erinnerte mich zum Glück rechtzeitig daran, dass ich hier wohnte, ehe ich in die Verlegenheit kam, ihm endlos hinterherzustarren.
Â
Wie man Geschichten und Sterne liest
Die Wohnung duftete nach Chili, aber darunter mischte sich noch ein anderer Geruch, der an Holzkohle und Pfeffer erinnerte. Papa stand am Herd, kostete, verzog das Gesicht und würzte mit Paprikapulver nach.
»Lass mich raten«, rief ich ihm aus dem Flur zu, wo ich meine dreckigen Schuhe auszog. »Versalzen.«
Er zog die Augenbrauen zusammen und schnupperte. »Riecht man das oder willst du mich neppen?«
»Das, was man riecht«, sagte ich, trat auf Socken zu ihm und wies auf ein verräterisches Päckchen Puddingpulver, »ist verbrannte Milch. Ich tippe mal, sie ist dir übergekocht. Bist du heute etwas abgelenkt?« Ich schmunzelte, als er sich vor meinen Augen wand und schlieÃlich mit den Schultern zuckte. Die Küche war das heilige Refugium meines Vaters. Wenn ihm hier Patzer unterliefen, musste es ernst sein mit seiner neuen Flamme.
Ich freute mich für ihn und versuchte, ihn ein wenig auszuquetschen, während wir im Stehen gleich aus dem Topf aÃen. Offenbar jedoch waren Beziehungsangelegenheiten für ihn ein noch sensibleres Thema als für mich und so erfuhr ich nur, dass Corinna offenbar seine Liebe für Blind Guardian und Fernsehserien aus den Achtzigern teilte. Mein Appetit war zurückgekehrt und hatte Freunde mitgebracht, sodass wir vor dem Chili con Carne nicht klein beigaben, ehe der gesamte Topf leer und selbst der Boden mit Brot ausgewischt war. Nach dem Essen opferte ich mich und übernahm das Spülen.
»Dann kannst du noch etwas Pause machen, ehe du zur Arbeit musst«, meinte ich und drehte das Wasser auf. »Ich werde
Weitere Kostenlose Bücher