Himmelsfern
und lehnte mich über ihn. Seine Hand blieb, wo sie war, in dem Winkel zwischen meinem Kinn und meinem Hals. Mit dem Daumen berührte er meinen Mundwinkel. Es gab so vieles, was ich ihm sagen musste, so vieles, das ich ihn fragen wollte. Vor mir lag ein Bild in Scherben, ein Bild, das die Wahrheit zeigte. Ich sah in Marlons Blick, der an meinen Lippen haftete, dass er mir alle Teile gegeben hatte und nun darauf wartete, dass ich sie zusammensetzte, aber mein Kopf verweigerte die Mitarbeit und mein Mund das Sprechen. Ich schloss die Augen, küsste ihn, um nichts sagen zu müssen, und merkte im gleichen Moment, dass der Kuss ihm alles verriet, was er von mir wissen wollte. Meine Wut lag in diesem Kuss, meine Angst, meine Entschlossenheit und all meine Zärtlichkeit. Hatte ich zuvor geglaubt, diese Emotionen würden nicht zueinander passen, sich gar widersprechen, lernte ich in diesem Moment, wie gut sie sich ergänzten. War das das ominöse Gefühl, das man Liebe nannte?
Als ich die Lippen von seinen löste, prickelten sie, brannten gar ein wenig von seinen feinen, sandigen Bartstoppeln. Marlon öffnete die Augen zur Hälfte, schluckte so hart, dass ein klackendes Geräusch aus seiner Kehle drang, und brachte etwas in mir zum Kochen, sodass ich nicht mehr wusste, ob ich ihn küssen, streicheln oder schlagen wollte.
»Geh nicht weg«, wisperte ich. Dann musste ich die Zähne zusammenbeiÃen und die Finger in seine Oberarme graben.
Bitte, bitte, geh nicht weg.
Ich hatte angenommen, er würde mir hier oben nicht ausweichen können, aber er tat es trotzdem, indem er an mir vorbei in den Himmel sah. Die Sterne und Wolken spiegelten sich in seinen Augen.
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, sah ich in den Nachthimmel. Um uns herum wurde es lauter. Wind kam auf und riss die ersten Blätter von den Bäumen. In meinen Ohren warfen Marlons Worte über die Sterne Echos. Und dann kippte einer dieser Gedanken und löste eine Kettenreaktion aus.
Astrologie lieà einen Menschen, der mit beiden FüÃen auf dem Boden stand, in den Himmel sehen. Marlon mit den kohlrabenschwarzen Augen musste fortgehen und brauchte etwas, das ihm half zurückzukommen. Raben suchten Erinnerungen. Seine Geschichte vom Meer war ein Spiegel und wie in seinen Augen spiegelte sich im Meer ⦠spiegelte sich im Meer â¦
Der Himmel.
»Du â¦Â« Ich brauchte alle Willenskraft, um die Worte herauszupressen. »Du wirst in den Himmel gehen.«
Das ergab keinen Sinn oder vielleicht doch, nur konnte ich diesen nicht greifen. Mein Kopf war verstopft von einer alles verdrängenden Furcht.
Erbkrankheit. Seine Eltern waren fort, doch er würde bald wieder bei ihnen sein. Und überall der verdammte Himmel.
Sag, dass du nicht stirbst. Sag, dass du nicht stirbst.
»Sag, dass du nicht ⦠stirbst.«
»Ich sterbe nicht.«
Warum erleichterte mich seine müde Antwort kein bisschen? Ich krallte mich in seine Schultern, hielt mich an ihm fest oder hielt ihn bei mir und tat ihm mit Gewissheit weh. Warum diese Geschichte vom Meer? Damit er nichts Verbindliches sagen musste? Um gehen zu können? Und mich ohne den wahren Grund zurückzulassen? Warum fragte ich mich das noch? Ich wusste es längst. Ich kannte ihn.
»Sondern?«
Marlons Miene blieb hart wie Eisen, er mied meinen Blick. Ãber seinem Gesicht lag der Schatten aus Misstrauen dichter und finsterer als je zuvor. »Du weiÃt es, Magpie. Sprich es aus. Sag es, ich kann das nicht. Ich habe es dir gezeigt, nun musst du es erkennen.«
Wind fuhr mir ins Haar, kroch kühl unter meine Kleider. Ich wollte erwidern, dass ich es nicht aussprechen konnte. Herrgott, ich war doch nicht verrückt! Aber dann quollen die Worte doch über meine Lippen, nicht einmal hinter Ironie oder dem Versuch zu scherzen versteckt, sondern so selbstverständlich, dass mir fast das Herz stehen blieb, als ich sie aus meinem Mund hörte.
»Du denkst, dass du dich in einen Vogel verwandeln wirst. In einen der Raben.«
Sein Blick traf auf meinen. Irgendetwas an Marlon veränderte sich und machte ihn mir fremd. Ich brauchte ein paar Atemzüge, ehe mir klar wurde, was es war. Die Maske aus Misstrauen. Sie erzitterte, bekam haarfeine Risse, die sich wie ein Geflecht über sein Gesicht ausbreiteten. Dann brach die Maske weg. Nichts deutete auf eine Schwachstelle hin. Und doch erkannte ich, dass Marlon zum ersten Mal
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