Himmelsfern
vollkommen schutzlos war. Keine Lüge, kein Geheimnis mehr. Nie hatte ich etwas Zerbrechlicheres in den Händen gehalten als diesen Augenblick. Die Welt kümmerte sich nicht darum, aber mein Universum begann zu beben, als Marlon sich aufrichtete, bis er mir gegenübersaà und leicht auf mich heruntersah. Ich glaubte zu weinen, weil mir plötzlich Wasser über die Wangen lief, erkannte dann aber, dass es wieder zu regnen begonnen hatte. Schwere Tropfen, die auf die Dachlatten klopften und ploppende Laute verursachten, wenn sie in unsere vollen Teetassen fielen.
»Noa? Glaubst du mir?«
Ich war mir nicht sicher, ob er die Frage aussprach oder so intensiv dachte, dass ich sie hören konnte. Gern hätte ich gelacht, gesagt, dass er einen Vogel hatte, oder die entsprechende Geste gemacht. Ich wollte ihm nicht glauben. Aber ich konnte nicht anders, weil es wahr war.
Ich nickte, erst ganz zaghaft, dann heftig. Real wurde es dennoch erst, als ich es aussprach. »Ich glaube dir.«
Und von dem Moment an drehte sich meine Welt in die andere Richtung.
Wir mussten dem Platzregen danken, denn hätte er uns nicht vom Dach getrieben, wären wir vermutlich die ganze Nacht bewegungslos und schweigend dort sitzen geblieben. Ich paralysiert von der unglaublichen Enthüllung, Marlon â so nahm ich an â von der Tatsache, dass ich nicht sofort die Männer mit den Hab-mich-lieb-Jacken alarmierte. Er hatte es tatsächlich nicht für möglich gehalten, dass ein Mensch ihm glauben würde. Er hielt mich also für nicht ganz normal â na, prächtig. Mit seinen Geschichten und Halbwahrheiten hatte er sich Fluchtwege offengehalten, kleine Sicherungen gebaut, um sich zu schützen, sollte ich ihn für verrückt erklären.
Marlon kletterte zuerst vom Dach. Ich reichte ihm die Thermoskanne, die Tassen sowie die Decke und sprang, bevor er die Hände frei hatte, um mir behilflich zu sein. In der Laube schien das Prasseln des Regens verstärkt, es war nervenzerfressend laut und schluckte meine ersten verzagten Fragen nach dem Wie und Warum.
»Sind es die Raben? Sind sie â¦Â«
Marlon zuckte unruhig mit den Schultern und sah mich nicht an. »Nicht alle. Ich weià es nicht genau, bei manchen kann man es nicht mehr erkennen.« Er lief in der kleinen Hütte auf und ab, stellte Kerzen von links nach rechts, schob einen Eimer über den Boden, stopfte ein Handtuch in das undichte Fenster und wischte schlieÃlich den Tisch ab, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Ich nahm ihm das Tuch aus der Hand, hielt seinen Unterarm fest und bemerkte erst dann, was er überhaupt tat. Vor uns auf dem Holztisch zerplatzten Wassertropfen, die sich ihren Weg durchs Dach gebahnt hatten. In dem Eimer, der nun neben seinem Bett stand, wies ein leises Plopp-plopp-plopp darauf hin, dass auch hier das Dach undicht war.
»Es regnet rein«, stellte ich fest. Welch grandiose Erkenntnis â Glückwunsch, Noa! Er wusste das längst und hatte versucht, es mich nicht merken zu lassen. Beklommen biss ich mir auf die Unterlippe.
»Tut mir leid«, sagte er, wühlte in einem Rucksack, zerrte eine Jacke hervor und warf sie mir zu. »Zieh die über, ich bringe dich nach Hause.«
Ich biss fester. Wusste ich nun zu viel und er wollte mich loswerden, ehe ich Fragen stellte? Ich konnte doch jetzt nicht gehen. AuÃer â¦
»Kommst du mit?«
Er zuckte erneut mit den Schultern. »Ich schick dich doch nicht allein durch den Regen.«
»Nein, ich meine, ob du mit zu mir kommst. Zu mir nach Hause.« Um ein wenig bei mir zu bleiben. Ein paar Stunden, dachte ich. Oder über Nacht. Lieber noch für immer.
»Deine Eltern werden etwas dagegen haben, wenn du nachts nasse Fremde mitbringst«, entgegnete er, als wir vor die Tür traten. Mich schützte seine Jacke. Er schien den Regen im Gesicht zu genieÃen, als würde dieser seine Anspannung fortwaschen. An dem kurzen, behaglich wirkenden Durchstrecken seiner Schultern erkannte ich den Moment, als das Wasser sein Sweatshirt durchdrang. Ich schob meine Finger in seine Handfläche und versuchte mir vorzustellen, er hätte Flügel, Klauen und glänzend schwarze Federn, an denen der Regen abperlte. Es gelang mir viel zu leicht.
Ich räusperte mich. »Mein Vater ist bei der Arbeit. Er hat Nachtschicht, kommt also erst morgen früh um sieben nach Hause und wird dann schlafen wie ein
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