Himmelsfern
zurück. Sie war, wie er sie kannte â unfähig zu sprechen, doch in der Lage, herbeizusingen, was sie brauchte, um ihren Hunger zu stillen. Sie war begieriger als je zuvor, nach Fischen ebenso wie nach ihm, und sie erlaubte ihm nicht, ihr fernzubleiben, um nach seinen Kindern zu suchen.
Die Jahre verliefen im Strom der Gezeiten. Beltane kam, SeirÄn ging und lieà Brijans Kinder an Land zurück, um gleich darauf neue von ihm zu verlangen. Brijan vergaÃ, was ihn einst ausmachte. Das Meer bot zu viel Raum zum Vergessen.
Doch eines Tages, als im späten Sommer an Land das Lammas-Fest gefeiert wurde, beobachtete er etwas Sonderbares: Zwei Menschen gingen aufs Meer zu, wurden von den Wellen liebkost und empfangen. Sie tauchten ins Wasser und ⦠lebten. Wie SeirÄn. Und wie er. Brijan erkannte seine Erstgeborenen, ohne sie je zuvor gesehen zu haben. Doch dann verwandelten sie sich. Schuppen wucherten aus ihrer zarten Haut, Kiemen brachen blutig aus ihren Leibern hervor und der menschliche Unterkörper wurde zu einer Fischflosse. SeirÄn begann in den Tiefen der See zu singen, lockte ihre Kinder jubilierend herbei. Die neugeborenen Meereswesen erwiderten die Gesänge und folgten ihr. Brijan aber blieb am Ufer zurück, als er sah, wie Menschen, weinend und rufend, seinen Kindern ins Meer folgten und ertranken. Seine kalte Haut schauderte, denn ihm wurde bewusst, dass weitere dieser Meereswesen entstehen würden und wiederum Nachfahren haben würden. Und alle folgten sie einem Verlangen. Menschliches Leben â jeden, der sie geliebt hatte â durch ihren Liebreiz ins Meer zu locken, wie Brijan es einst getan hatte.
Wie aus dem Nichts erschienen ihm die drei Meereswesen. In den letzten Jahren hatte er sie fast vergessen. Ihre Leiber glühten vor Freude angesichts der menschlichen Opfer, deren Leben im Meer zerflossen.
»Der Kreis ist geschlossen«, zischte das erste Wesen.
Das zweite kicherte. »Deine Schuld ist gezahlt.«
»Unaufhaltsam gezahlt«, schloss das dritte. »War doch ganz billig.«
»Für immer â¦Â«
»â¦Â und immer â¦Â«
»â¦Â und ewig.«
»Das ist die ganze Geschichte, Magpie.«
Marlons Erwartung lag so drückend in der Luft, dass ich kein Wort herausbekam. Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, weil ich nicht wusste, was er mir sagen wollte. Er glaubte doch nicht ernsthaft, sich in ein Meereswesen zu verwandeln? Nein, das hatte er mir versichert. Um seinen Geisteszustand musste ich mich also nicht sorgen. Aber warum zum Geier erzählte er mir von diesen Sirenen? Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Rosalia. Es war eine Metapher. Doch wofür?
»Und?«, meinte Marlon und lehnte den Kopf zurück, sodass er auf meiner Schulter lag und seine Wange mein Ohr berührte. »Bestehe ich den Vergleich mit Girau-wemauchimmer?«
Ich war ihm unglaublich dankbar, dass er versuchte, mit einem Scherz den Druck von mir zu nehmen. »Das fragst du die Falsche. Deine Geschichte gefällt mir, aber ich bin ein schlechter MaÃstab. Ich lese Bücher bloà für die Schule. Dementsprechend wenig kann ich sie leiden.« Wenn er sein Talent als Schriftsteller beurteilt haben wollte, hätte ich ihn zu Rosalia schicken sollen. Sie war die Belesene von uns, investierte ihr ganzes Taschengeld in Romane und schrieb im Matheunterricht Gedichte.
»Verdammt.« Sein Schmunzeln war hörbar. »Hätte ich das gewusst, hätte ich nicht den Literaten gespielt, sondern dir das Ganze als Comic gezeichnet.« Er legte den Kopf noch weiter zurück und sah in den Himmel.
Erste Sterne schälten sich aus dem sich rasch verdunkelnden Blau und flüsterten mir zu, dass es Marlon um etwas ganz anderes als um eine Beurteilung seiner literarischen Qualitäten ging.
»Ist es die Geschichte der Huntsmen?«, riet ich, ehe mich der Mut verlieÃ. »Der König, der seine Tochter verlor ⦠gründete er eine Föderation, um sich an den Meereswesen zu rächen?«
Ich spürte Marlon nicken. »Es muss tausend Jahre her sein, vielleicht noch länger. Aber es heiÃt, dass ein mächtiger Mann â vielleicht war er wirklich ein König â in seiner Verzweiflung die besten Ritter zusammenrief und zu den Urahnen der Huntsmen ausbildete.«
»Kann man ihm irgendwie nicht verübeln«, meinte ich und bereute meine Worte sofort. »Auch wenn Brijan mir
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