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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Toter.«
    Ob er erkannt hatte, wie weit meine Planung ging? Er ließ es sich nicht anmerken.
    Wir passierten ein paar vergessene Lavendelsträucher, die im Regen so schwer dufteten, dass das Atmen fast lästig wurde.
    Â»Was ist mit deiner Mutter?«
    Â»Meine Eltern sind getrennt.« Sein Griff um meine Hand wurde fester und ich sagte rasch: »Das muss dir nicht leidtun, es ist okay. Wir kamen einfach nicht mehr miteinander aus. Sie lebt die meiste Zeit im Ausland und sie ist glücklich dort.« Ich rieb mir einen Regentropfen von der Nase, der mich kitzelte. »Deine Eltern und dein Bruder … sind sie auch … so wie du?«
    Â»Harpyien«, sagte Marlon laut und beobachtete mich dabei genau.
    Harpyien.
    Ich drängte mit aller Kraft das Bild zurück, das mir in den Sinn kam, und sah stattdessen Marlon an. Er tastete mein Gesicht mit seinem Blick ab, vermutlich forschte er nach einem Hinweis, dass ich ihm doch nicht glaubte. Aber seine Chance zur Flucht war vorüber und auch ich machte keinen Rückzieher. Ich wollte ihm nicht mehr misstrauen, ich wollte mehr erfahren.
    Ich nickte ihm aufmunternd zu, damit er weitersprach.
    Â Â»Ja, sie sind wie ich. Es ist keine Seuche, nicht ansteckend oder übertragbar. Wir sind eine Unterart des Menschen, von Geburt an. Der Legende nach ist es ein Fluch, der einst über ein Dorf verhängt wurde, weil die Menschen mit ihrem Leben am Boden unzufrieden waren und blasphemisch nach Macht über den Himmel verlangten. Andere sagen, es sei kein Fluch, sondern die göttliche Erfüllung dieses Wunsches.«
    Â»Was glaubst du?«
    Er gab keine Antwort, vermutlich, weil er sich selbst nicht sicher war.
    Harpyien. Das war also das Wort, das zwischen uns gestanden hatte. Harpyien – Menschen, die sich in Vögel verwandelten. Ich wiederholte es in Gedanken, dann formte ich es lautlos mit den Lippen.
    Marlon musste trotzdem etwas gemerkt haben, denn er schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Glaub nur nicht, wir würden aus Eiern schlüpfen.«
    Â»Natürlich nicht.« Ich schnalzte mit der Zunge, als hätte ich Ahnung, und rieb mir verlegen die Nase. »Du wirst mir einiges erklären müssen. Ihr verwandelt euch also in Raben.«
    Â»In Vögel«, korrigierte er. »Ich stamme aus einer Rabenfamilie, aber es gibt auch andere Arten. Kleinere und unauffälligere. Die haben es etwas leichter.«
    Â»Das ist reichlich verwirrend. Bis eben dachte ich, Harpyien …«, ich stockte, weil mir das Wort so leicht über die Lippen gekommen war. »Na ja, ich dachte bei dem Begriff bisher an hässliche Frauen mit Hängebrüsten, Schnäbeln und Flügeln.«
    Â»Wir sind eine alte Rasse«, erklärte Marlon. »Zu Zeiten, als nur hohe Gelehrte das Schreiben beherrschten, erzählte man sich Geschichten allein über Bilder. Ein Mischwesen aus Mensch und Tier sieht dramatischer aus als eine vollständige Verwandlung in eine andere Gestalt. Daher kommen die Mythen.«
    Wir überkletterten das Tor der Kleingartenanlage und traten auf die Straße. Die Stadt erschien mir plötzlich unheimlich, als hätte das Wissen, dass Fabelwesen existierten – und dass ganz nebenbei Marlon, mein Freund, eins von ihnen war –, ihr die vertrauten Farben entzogen und sie neu koloriert. Ob da draußen wohl noch andere Geschöpfe herumliefen, von denen ich nichts wusste?
    Â»Gibt es auch Menschen, die sich in andere Tiere verwandeln können?«, fragte ich im Flüsterton.
    Marlon seufzte. »Wenn, dann verstecken sie sich gut.«
    Â»Und die Meereswesen?«
    Â»Fantasie. Ich habe zumindest noch keine Nixe kennengelernt.« Er errötete hauchzart, ich sah es trotz der Dunkelheit. »Ich mag das Meer und es hat mit unserer Verwandlung zu tun. Und es …«
    Â»Spiegelt den Himmel.«
    Er lächelte und ich führte den grausamen Gedanken fort, dass die Tochter des armen Königs, der zum ersten Huntsman geworden war, von einem von Marlons Volk geraubt worden war. Von einer Harpyie.
    Aber nicht von Marlon.
    Â»Wie viele seid ihr?«
    Â»Nur wenige. Harpyien zu finden, ist wie die Suche nach einer Muschel im Meer. Spätestens wenn sie ihre Kinder verlassen haben, vergessen sie endgültig, dass sie zum Menschsein fähig sind. Aber die meisten verwandeln sich schon nach der ersten Metamorphose nicht zurück. Nie.«
    Unweigerlich griff ich wieder nach seiner

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