Himmelsfern
Lichtschalter aus und übergoss mich mit Schwärze.
Mein Magen fühlte sich an wie beim Zirkeltraining, während der letzten drei von dreiÃig Sit-ups. Zwanzig Zentimeter fragiler Sicherheitsabstand trennten uns. Raum, den ich mutig um ein paar Millimeter verringerte, indem ich meinen Arm bewegte. Ich gewöhnte mich an die Dunkelheit und wagte einen zaghaften Blick in Marlons Richtung. Seine Augen waren offen und sehr schwarz und mein Mund war offen und sehr trocken. Ich zog den Arm wieder an mich, um die zwanzig Zentimeter wiederherzustellen, da drehte er sich auf die Seite, stützte sich auf einen Ellbogen und lehnte sich über mich. Mein Herz machte Radau, mein Magen krampfte und meine Lunge verweigerte die Mitarbeit.
Marlon küsste meine Stirn und murmelte etwas, das ich erst ab dem zweiten Satz verstand.
»All I wished and all I wanted was to kiss you goodnight in the dark. Now kissing you goodnight in the dark is nothing but wishing, and wishing, you know, is everything I ever want in the dark of the sky.«
»Ein Song?«, hauchte ich. Zu mehr reichte mein Atem nicht.
Marlon nickte, sein Haar fiel über mein Gesicht und roch nach ihm. »Corbin hat ihn geschrieben. Ich habe ihn aber nie verstanden, bis ich dich kennenlernte. Schlaf gut, Magpie.«
Schlaf gut? Wie witzig, Marlon.
Er legte sich wieder hin und schloss die Augen. Ich beobachtete ihn, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er tatsächlich ruhig und entspannt neben mir liegen konnte. Aber er konnte es.
»Warum nennst du mich so?«, fragte ich irgendwann in die Stille.
Er schmunzelte mit geschlossenen Lidern, aber ich war nicht sicher, ob es amüsiert oder traurig wirkte. »Wenn du eine Elster wärst, könnte ich dich mitnehmen und niemand hätte etwas dagegen, weil Raub nichts Schlimmes für Elstern ist.«
»Ja, wenn ich fliegen könnte.« Ich seufzte. »Hast du dir schon einmal vorgestellt, wie es ist, zu fliegen?«
»Ich weiÃ, wie es ist.« Seine Stimme klang düster und selbst im Dunkeln konnte ich die Anspannung sehen, die sich um seine Mundwinkel spann. Er nahm meine Hand. »Ich träume davon. Es ist grenzenlos. Die Erde unter dir ist die einzige Grenze, die du hast. Ãber dir ist nichts. Du kannst so hoch fliegen, wie du möchtest, so hoch, wie du es schaffst.«
In meinem Magen kribbelte es. Als säÃe ich auf einer Schiffsschaukel, am höchsten Punkt, genau in dem Moment, wenn es wieder nach unten geht und man sich für einen Sekundenbruchteil schwerelos fühlt.
»Der Wind«, fuhr Marlon fort, »schlägt dir nicht ins Gesicht, er trägt dich. Wenn du die Flügel ausbreitest, fängt er sich zwischen deinen Federn. Du spannst die Muskeln an, jede Sehne. Mit jedem Flügelschlag nutzt du die Luft und den Wind, sie geben dir Widerstand, schaffen dir genug Masse, damit du dich davon abstoÃen, und genug Freiraum, damit du darin eintauchen kannst. Sie halten dich im Arm, aber sie halten dich nicht fest.« Marlon strich meinen Unterarm entlang, vom Handgelenk zur Ellenbeuge, und die Berührung wanderte ohne sein Zutun weiter bis zu meinem Herzen.
»Irgendwann wird die Luft zu dünn, der Wind zu eisig. Aber keiner sagt dir, was du tun sollst, was du kannst oder darfst. Du kannst alle Grenzen überschreiten, wenn du Mut hast. Deine einzige Grenze bist du selbst. Du bist frei zu tun, was immer in deiner Kraft liegt.«
Ich seufzte erneut und bedauerte ernsthaft, nicht seine Elster zu sein, nicht mit ihm gehen zu können. »Der Traum vom Fliegen«, flüsterte ich.
»Richtig«, stimmte Marlon zu und plötzlich war seine Stimme so hart, dass ich einen kalten Druck von der Intensität einer Stahlklammer im Nacken spürte. »Nur dass du dann keine Träume mehr kennst. Keine Träume und keine Wünsche mehr, keinerlei Interesse, deine Grenzen zu erweitern. Tiere«, er spuckte das Wort fast aus, »haben keine Träume.«
Ich lag eine gefühlte Ewigkeit da, sah an die Decke und suchte nach Worten.
»Aber du bist kein Tier«, sagte ich schlieÃlich. »Du bist Marlon.«
Er neigte den Kopf und sah mich an, ausdruckslos, als verstünde ich nichts. »Bis zum ersten Vollmond im August.«
Ich wollte es nicht begreifen. Die ganze Wahrheit war so viel weitreichender, als ich zunächst angenommen hatte. Sie lag offen vor mir, aber ich weigerte mich, sie anzurühren, weigerte mich,
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