Himmelskinder
vertagen muss.«
Die neunjährige Mel hatte wie immer Verständnis für ihren Vater. Hendrik, der fünf Jahre jüngere Bruder, schimpfte:
»Blöder Papa, du sagst immer, was du nicht machst. Dann soll die Mama mit uns gehen.«
»Die Mama hat genug zu tun. Sie wird Stunden für unsere Gäste in der Küche stehen und hat keine Zeit, und ich bin nicht blöd, mein lieber Sohn. Das möchte ich nicht mehr hören. Aber ich bin bereit, morgen mein Versprechen einzulösen. Mittags habe ich einen Pressetermin, dann komme ich gleich nach Hause, ja?«
Rössler, der für den Parteivorsitz kandidierte, gab Mel einen liebevollen Klaps auf den Po, für den Sohn gab es einen ermahnenden Blick, dann war er durch die Haustür verschwunden.
Mel blickte mit fragendem Blick ihre Mutter an. Sollte ihr Vater …? Nein, nach wenigen Sekunden läutete die Türglocke, und als Marion Rössler lachend öffnete, stand er mit dreien der vor dem Haus üppig wachsenden Hortensien in der Hand und überreichte sie seiner Frau. Nach einem Kuss war er endgültig verschwunden.
Am Abend kam er frühzeitig zurück und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Er wollte seine Rede noch einmal durchgehen, mit der er sich anlässlich einer anstehenden Debatte um Strafverschärfungen gegenüber Drogendealern positionieren wollte.
Marion Rössler empfing pünktlich um neunzehn Uhr die Gäste, zwei Kollegen aus der Fraktion mit ihren Ehefrauen. Während des hervorragenden Essens hielten sich alle an die Verabredung, den heutigen Abend nicht der Politik zu widmen, sondern sich amüsanteren Themen zuzuwenden. Mel und der kleine Hendrik saßen mit am Tisch, durften dann aber bald aufstehen. Hendrik hatte noch verlauten lassen, dass sein Papa leider doch blöd sei, weil er nie »das Wort haltet«. Jürgen Rössler verkniff sich ein Lachen und sagte streng:
»Na schön, vielleicht hast du recht. Sag es aber bitte nicht weiter.«
Später saßen die Frauen im Wohnzimmer und spielten Canasta, bestens versorgt mit einem köstlichen Grauburgunder.
»Manchmal beneide ich dich, Marion. Jürgen ist ein fantastischer Vater. Weißt du, ich glaube, mein Mann würde unsere Mädchen in den Orient verkaufen, wenn ich nichts dagegen hätte. Sie stören ihn nur.«
»Hm, manchmal wünschte ich, Jürgen wäre ein weniger guter Vater und würde sich mehr für mich interessieren. Die Politik frisst ihn auf.«
Marion schaute in ihr Glas und schwieg. Dann stand sie auf und ging in die Küche.
Die Herren diskutierten nebenan recht kontrovers, mit der Zeit gelang es jedoch dem Hausherrn mit ein wenig moralischem Druck, die Kollegen auf seine Position einzuschwören.
Am nächsten Nachmittag saß Hendrik wartend auf den Treppen, die vom Vorgarten zum Haus führten. Er hatte ein altes Marmeladenglas und ein Sieb aus der Küche entwendet. Mel war schon vor einer halben Stunde zurück ins Haus gegangen.
»Der Papa kommt wieder nicht pünktlich raus«, informierte sie leise ihre Mutter, die mit einer Migränemaske im verdunkelten Schlafzimmer lag.
»Es tut mir leid, Schatz, dass ihr wieder warten müsst. Mir geht es im Moment nicht so gut, sonst würde ich mit euch an den See gehen.«
Marion Rössler streckte die Hand nach ihrer Tochter aus. Mel ergriff die Hand und drückte sie leicht.
»Ach, Mama, ich bin doch schon groß, mir macht das nichts. Hendrik ist wütend, ich gehe ihn jetzt trösten. Mach dir keine Sorgen. Soll ich dir einen Tee machen, Mama?«
»Nein, du bist ein Schatz. Ich versuche zu schlafen. Aber geh bitte, und kümmere dich um Hendrik.«
40
Hans G. Bartholdy erledigte seine Einkäufe für das heutige Abendessen. Er hatte sich ein Rezept ausgesucht, das er schon lange ausprobieren wollte. Nach einem anstrengenden Verhandlungstag konnte er sich am besten mit dem Herstellen komplizierter Speisen entspannen. An einer der billigen Tankstellen hielt er an und tankte, bevor er nach Hause fuhr. Der Preis für Diesel war wieder erhöht worden. Dennoch war es eine richtige Entscheidung gewesen, den Wagen zu kaufen: Die Benzinpreise waren um einiges höher. Er stellte den Wagen in der Garage ab und ging zur Haustür. Auf dem Weg blieb sein Nachbar, Professor Dieter Stein, bei ihm stehen. Sie wechselten ein paar belanglose Worte. Stein, der an der juristischen Fakultät in Köln unterrichtete, erzählte von einem Seminar über Rechtsbeugung in der BRD. Er habe sich überlegt, ob Bartholdy nicht ein paar Stunden über die Praxis in deutschen Gerichtssälen berichten wollte.
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