Himmelsmechanik (German Edition)
seinen Beinen hochklettern und sich dann an seinem Gürtel festklammern musste, und dann noch einen Meter weiter hinauf, bevor sie sich endlich an seine stachelige Wange schmiegen konnte.
Sie erzählte mir auch, dass sie im Krankenhaus nie geweint hat, obwohl sie nichts anderes als Weinen hörte: Kinder wie sie und sogar Größere; dass eine Ärztin kam, die ihr sagte, sie solle weinen, und dann ihre Tante, immer dasselbe. Aber sie hatte noch nie geweint; auch um das Eis hatte sie nicht geweint, auch nicht mit zwei Jahren im Kindergarten wegen des gebrochenen Arms. Diese Geschichte, weinen zu sollen, beunruhigte sie, und jahrelang stand sie da, in der Schule, in der Turnhalle, im Haus von Tante Edda, am Strand, und fühlte, dass sie weinen musste, ohne dass sie erklären konnte, warum es ihr nicht gelang. Sie sagte mir, dass sie es schließlich geschafft hat, die Freunde des Geflennes zufriedenzustellen. Doch inzwischen waren viele Jahre vergangen, und das waren schöne Jahre mit ihrer Tante Edda, die sie im Sommer wie im Winter am Strand bleiben ließ, so lange sie wollte, die ihr Eis in jeder Sorte kaufte, die sie mochte; eine Tante, die nie einen Ehemann gehabt hatte, aber ein Zimmer vollgestopft mit Bücherregalen und zwei Meter hohen Stapeln mit allen möglichen Zeitschriften. Sie las schon immer gern, auch als sie es in der Schule noch nicht konnte, noch bevor sie mit ihrer ganzen Familie in die Luft geflogen war, und ihre Tante Edda ließ sie alle Bücher nehmen, die sie wollte. Ihre Tante erklärte ihr, als sie schon groß genug war, ein Gespräch zu verkraften, das sie als sehr intim betrachtete, sie habe die Manie der Lektüre begonnen, weil sie sich als eine Frau fühlte, die zu leidenschaftlich für das Leben war, das sie führte. Sie hatte dreißig Jahre in der Grundbuchauskunftsstelle im Katasteramt von Cesena gearbeitet, und in dieser ganzen Zeit war es ihr nicht gelungen, in den Abertausenden von Gesichtern, die sie hinter dem Schalter sah, auch nur einen einzigen Grund zu finden, in Aufregung zu geraten. Und wenn sie an den Strand kam, war sie so müde und gelangweilt, dass sie einen Mann nicht von einem Krapfen unterscheiden konnte.
Der Strand war Tante Eddas andere Manie; sie hatte eine Wohnung an der Rückseite des Gebäudes gekauft, in dem sie seit ihrer Kindheit den Liegestuhl und den Sonnenschirm gemietet hatte, und von Mai bis Oktober verbrachte sie ihre ganze Freizeit auf diesem Liegestuhl. Sie konnte nicht schwimmen, sie blieb unter dem Sonnenschirm und las Bücher und aß Krapfen. Sie sagte zu ihrer Nichte, dass sie noch nie ein Buch gelesen habe, das so dumm war, dass sie es bereut habe, sich mit dem zufrieden zu geben, was vor ihrem Grundbuchschalter passierte; und wenn sie von Büchern sprach, dann meinte sie nicht einfach Romane, da sie mit derselben Leidenschaft alles las, was die Menschheit schwarz auf weiß gedruckt hatte.
Wenn sie es wirklich sagen sollte, dann gestand sie ihrer Nichte, dass der aufregendste Mann, den sie jemals kennengelernt hatte, zweifellos der Forscher Livingstone war: so vornehm und so leidenschaftlich, so sehr ins schwarze Afrika verliebt und so respektvoll gegenüber den Königinnen von unsagbarer Schönheit, die sich ihm zu Füßen geworfen hatten, als er sich in die finstere Tiefe des Kongo vorgewagt hatte.
Tante Eddas Sprache hatte die gleiche feine Ernüchterung der Modezeitschriften einer gewissen Klasse, die sie in Stapeln aufbewahrte. Wenn sich die Nichte schlecht fühlte, ging sie zuerst das medizinische Familienhandbuch holen, um zu sehen, was man tun konnte; sie suchte hier und da und versank dabei ganz in der Betrachtung der Illustrationen exotischer und haarsträubender Krankheiten. Sie zeigte sie ihr und sofort fühlte sich die Nichte besser. Mit acht Jahren hatte sie bereits ihr erstes ganzes Buch gelesen, und dieses Buch hieß
Pippi Langstrumpf
; im Fernsehprogramm sah es für sie nicht so aus, als würde sie diesem Mädchen ähneln, doch beim Lesen fühlte sie sich genau wie sie. Mit zwölf tauschte sie schon ihre Bücher mit ihrer Tante; die war Mitglied eines Clubs, und bevor sie die Monatsbestellung aufgab, fragte sie ihre Nichte, ob sie ein bestimmtes haben wolle. Sie gingen zusammen zum Strand und nahmen eine volle Tasche Bücher mit, einfach so, um nicht ganz ohne zu sein; beide aßen die warmen Krapfen, die die Strandbudenfrau zur Hälfte morgens und zur Hälfte nachmittags buk, und beide schmierten die Bücher, die sie gerade
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