Himmelsmechanik (German Edition)
lasen, auf dieselbe Weise mit gezuckertem Öl ein.
Sie war bei ihrer Tante gut aufgewachsen; sie war glücklich in diesem Feriendorf, wo alle Tage wie Sonntag schienen, abgesehen von einigen Sonntagen im Januar und Februar, die grau wie Aschermittwoch waren. Sie war aufgewachsen mit ihren Freunden vom Badestrand, der zudem auch noch Bagno Casadei, Haus Gottes, hieß, wie praktisch alles dort. Sie hatten ihr alles beigebracht, was Tante Edda nicht kannte und nicht tun konnte, als Erstes Schwimmen. Und dann Lachen: Tante Edda lachte nur manchmal, beim Lesen. Und dann Spielen, und Sich-hofieren-Lassen, und Küssen, und alles andere, von dem Tante Edda sagte, sie solle es sich in den Büchern anschauen. Sie sagte ihr sogar, unter denen in ihrem Club gäbe es eines, das sie zur gegebenen Zeit bestellen würde, wenn sie so gebildet wäre, dass sie es voll und ganz verstehen würde, und dieses Buch würde ihr erklären, besser als jedes Gespräch, das sie mit ihr führen könnte, was an jenem Tag mit dem Eis am Bahnhof von Bologna geschehen war.
Das war, als sie zehn Jahre alt wurde, und die Ärztin, die einmal pro Woche kam, um mit ihr zu reden, sagte, sie würden sich nicht wiedersehen, wenigstens eine Weile nicht. Es war die Ärztin, die in den Tagen im Krankenhaus angefangen hatte, bei ihr zu sein, diejenige, die ihr sagte: Willst du vielleicht nicht ein bisschen weinen? Damals war sie fast eine weitere Tante. Anfangs taten sie nichts anderes, als miteinander Spiele zu spielen, die die Ärztin in ihrer Tasche mitbrachte; dann, nachdem klargestellt war, dass vom Weinen keine Rede sein konnte, begannen sie zu plaudern, und das taten sie fast fünf Jahre lang.
Das war ihre Behandlung, und sie sagt, es hat funktioniert. Als sie mit achtzehn Jahren zum Studieren nach Bologna ging, hat es sie nicht besonders gestört, jeden Morgen und jeden Abend am Wartesaal vorbeigehen zu müssen, wo sie mit fünf Jahren um die Sorte Eis gestritten hatte, kurz bevor sie ihre Familie verlor. Und als unumstößlichen Beweis ihrer guten Heilung blieb sie die ganze Zeit an der Universität bei ihrer Tante Edda wohnen und pendelte mit dem Zug, wie viele ihrer Freunde vom Meer. Sie schätzt, dass sie nicht weniger als 1200 Mal am Wartesaal mit dem Eis vorbeigekommen ist, ohne jemals etwas Besonderes empfunden zu haben. Sie hielt nur jedes Mal einen Augenblick vor der Steintafel inne, auf der die Namen ihres Vaters, ihrer Mutter und ihrer Schwester stehen. Und da sie schon einmal da war, warf sie auch einen Blick auf alle anderen Namen. So hat sie sie auswendig gelernt. Und das ist der Teil der Behandlung, die sie beschlossen hat, aus eigener Initiative zu unternehmen.
Es beruhigt sie sehr, einen nach dem anderen die Namen derer zu kennen, die an jenem Vormittag dort waren, als sie bockig war. Das gibt ihr die Vorstellung, dass sie dort alle zusammen gewesen wären, eine große Familie, die zur ledigen Tante nach Cesenatico zum Badeurlaub fuhr. Sie fühlt sich wohl bei dem Gedanken, sie alle bei ihrem Namen nennen und sich so an sie erinnern zu können, wenn sie Lust dazu hat. So ist es ihr lieber: zu wissen, dass sie Waisenkind von allen 85 ist; es ist ihr lieber, keine Unterschiede zu machen.
Sie hat mir von dem einzigen Mal erzählt, als sie geweint hat, und zwar heftig, und es war weder wegen der Behandlung der Ärztin noch wegen ihrer persönlichen Heilmethode. Und es war kein Weinen vor Schmerz oder vor Melancholie oder vor Heimweh, sondern ein Weinen aus reiner, ungezügelter Wut. Sie war vierzehn Jahre alt, und wer sie zum Weinen brachte, war derjenige, den sie unter den Jugendlichen des Strandbads Casadei zum Mann ihres Lebens auserwählt hatte. Er war in ihrem Alter, sah aber wie ein richtiger Mann aus, und ihn zu küssen, war das Wichtigste gewesen, was sie bis dahin getan hatte, das Ereignis des Jahrhunderts. Sie hatten sich bei der Sprungplattform geküsst, und sie hatten es weiterhin dort und nur dort getan, mitten im Meer, am romantischsten Ort von ganz Cesenatico. Wie ein richtiger Mann hatte er einen kleinen Jungen aus einem benachbarten Strandbad geohrfeigt, wegen einer Frage der Ehre, die sie betraf. Es wäre schön gewesen, wäre es nur eine Ohrfeige gewesen, doch er hatte ihn auch an den Haaren gezogen und ihm ins Ohr gebrüllt: Weißt du denn, du Idiot, dass sie eine von denen vom Bahnhof ist, weißt du, dass sie nur durch ein Wunder am Leben ist? Sie hatte ganz genau gehört, was er zu ihm gesagt hatte, alle in der
Weitere Kostenlose Bücher