Himmelsmechanik (German Edition)
Nähe am Strand hatten es gehört, und sie hat dort angefangen zu weinen, ohne sich zurückhalten zu können: fahl und schwach, unglücklich und allein. Denn von der ganzen Angelegenheit ist dies das wirklich Unerträgliche, sagte sie zu mir: leben zu müssen, als wäre man einzig und allein ein Opfer; ja, noch schlimmer, zu leben wie die Reliquie berühmter Opfer. Mit vierzehn Jahren hatte sie vielleicht schon hundert Bücher gelesen, und in keinem, in keiner einzigen Geschichte hatte sie ein noch lebendes Opfer gefunden, mit dem sie wirklich Mitleid und Sympathie empfand. Mit vierzehn Jahren hatte sie schon seit einer Weile begriffen, dass es nichts von dem, was ihr geschehen war, zu beweinen gab, außer vor Wut und Ohnmacht, und diese Art Weinen trocknet alles, was es benetzt.
Mit achtzehn Jahren hatte sie den Führerschein gemacht. Am Tag, als sie ihn abholte, führte Edda sie zu einer Werkstatt in Cesena und gab ihr die Schlüssel des einzigen Fehlers in ihrem Leben, als sie sich für einen Moment eingebildet hatte, es könne außer den Büchern etwas geben, das geeignet wäre, ihre brennende Leidenschaft zu zähmen. Und der Karmann, hat sie mir gesagt, ist das Einzige, was ich von meiner Familiemitgenommen habe, das Einzige, für das es sich lohnt, Steuern zu bezahlen, der einzige Fehler, den ich gern begehe. Er hat mich hierher gebracht, wie die
Spirit of St. Louis
Lindbergh gegen jede Vorhersage nach Paris brachte. Und mit sechzehn Jahren hatte ich schon seine Geschichte gelesen. Und es gibt nichts anderes, hat sie mir noch gesagt, nichts zu sagen, was von Nutzen ist. Abgesehen von der Tatsache, dass ich, auch wenn du es nicht gemerkt hast, als Jungfrau hierher gekommen bin. Und ich habe dich gewollt, hat sie beim letzten Mal, als wir zu den Apfelbäumen hinaufgingen, zum Schluss gesagt; und als sie es sagte, sprach sie noch langsamer, als wäre die Duse da und würde mir beibringen, ein Wort zu schreiben. Und ich will dich immer und immer und immer. Ich würde dich weiterhin wollen, auch wenn du mich von hier vertrieben hättest. Ich würde nachts kommen und klopfen, wenn du dich tagsüber auf die Lauer legen würdest, um mich fortzuschicken, und ich käme, auch wenn ich zwischenzeitlich gestorben wäre; ich will dich, weil du niemandem der Männer in meinem Leben ähnlich bist, weil es an dem Ort, wo du mich leben lässt, kein Eis gibt.
Der Moment der ›belùa‹
In diesen Tagen des dauerhaften Lichts, zu dieser Stunde zwischen Abend und Nacht, kommt ein Moment zwischen der letzten Helle und der ersten Dunkelheit, der, als ich Kind war, der Moment der
belùa
hieß. In anderen Ländern ist die
belùa
nur eine Wildkatze, kaum schlimmer als ein Marder, aber in diesem Revier ist es der Zauberer, der die Kinder verwirrt, um sie mitzunehmen und zu fressen. Der Hexer, der sich als Tier verkleidet, um hinterrücks gegen Unschuldige zu wüten, die ohne ein Zuhause herumirren.
Die
belùa
kommt zu ihrer Zeit aus ihrer Höhle und macht sich auf die Suche, und wo sie etwas findet, packt sie zu. Ich habe sie noch nie gesehen, doch als Kind habe ich sie oft gehört, und ab und zu höre ich sie immer noch, denn die
belùa
ist das ganze Leben unterwegs. Es ist ein merkwürdiger Moment. Der Tag war lang, das hochstehende Licht der Sommersonnenwende ist verschwunden, hat langsam und geschmeidig abgenommen, bis zwischen Süden und Osten die ersten violetten Fäden der kommenden Nacht aufsteigen. Doch noch bleibt überall das Licht, klebt an den Ausläufern der Wälder, wird auf den Graten der Marmorbecken zurückgeworfen, schimmert an den Kräuselungen der Strömung im Fluss, in gelben und roten Schemen und Flecken, als wäre es in Lauerstellung, bereit wiederzukommen, niemals zu enden. Es ist die Frage eines Moments, weißt du, dann wird es dunkel werden; und doch hoffst du immer, dass es noch etwas dauert. Denn diese Tage sind großartig, weil der Winter noch nicht ganz überwunden ist, und es bleibt immer noch etwas zu tun, etwas zu betrachten, das du im letzten Moment nur flüchtig gesehen hast; denn das Haus ist da unten, wo es immer war, warm und sicher, und wartet, ohne dich zur Eile zu drängen. Das ist der entscheidende Moment, an dem du die
belùa
im Rücken hast und dich weigerst, deinen Schritt zu beschleunigen, und so das Schicksal herausforderst. Denn es genügt, dass dein Haus nur einen Schritt weiter weg ist, als du dich zu erinnern glaubst, es genügt, dass der Schatten der
belùa
sich bis zu deinen
Weitere Kostenlose Bücher