Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
Vom Netzwerk:
dem Lohn des Zwangsarbeitsunternehmens entsprach. Die Santarellina meldete sich freiwillig, weil sie keine Angst davor hatte, Steine zu schleppen, und weil das der erste Lohn war, den sie jemals für ihre Arbeit bekam. Von dem, was ihr die TODT gab, konnte sie nicht nur essen, sondern auch etwas zum Tauschen beiseite legen, um sich zu holen, was sie wollte. Das war zuvor nie der Fall gewesen, und so fügte sie ihrem alten Bestreben, nie bucklig zu werden, ein neues hinzu. Sie blieb zwar noch Magd bei ihren Bauern, musste aber nicht mehr so viel tun, so beschäftigt, wie sie bei der strategischen Arbeit der Deutschen war. Mit etwas Schlauheit hatte sie jetzt, da sie zwei gegensätzliche Knechtschaften zu erfüllen hatte, etwas in den Händen, von dem sie früher nie gewusst hatte, was das war: Zeit für sich. Und sie wollte diese Zeit, um mit ihrer Freundin Duse zusammen zu sein. Was sie beide zusammen machten, das hat mir die Santarellina nie erklärt, aber sie sagt, sie habe begriffen, was ein wenig Freiheit ist, als sie zum zweiten Mal in Knechtschaft geriet.
    Auch die Duse äußerte sich nie über die Art dieser Freundschaft, vielleicht leisteten sie sich einfach nur Gesellschaft.
    Es fing so an: Im ganzen Dorf, im ganzen Tal war niemand einsamer als sie. Niemand so sehr Waise. Sie redeten miteinander, sie erzählten sich etwas, und dabei sahen sie, wie der Krieg voranschritt, immer weiter, und sie beschützten einander, wie sie konnten, blieben in der Nähe, standen sich bei. Natürlich war es die Santarellina, die mehr Dinge beisteuern konnte. Sie war stärker, sie war ausgehungerter, sie war fröhlicher, also aktiver und unternehmungslustiger, verlässlicher und scharfsinniger. Die Duse konnte nur ihr Akkordeon und den Schutz des Wirtshauses beitragen, denn das Wirtshaus blieb im Niemandsland. Aber der Santarellina, glaube ich, hätte auch das Akkordeon genügt. Ich habe sie oft zusammen singen hören; die eine gegenüber der anderen, die Duse, die den Balg mit einer Bewegung auseinanderzog, bei der sie auch ihre Freundin umarmen konnte, die Santarellina, die ihren Hals nach oben streckte und ihren Mund aufriss, und es kam eine Stimme heraus, so winzig wie sie selbst, aber auch grauenvoll schrill. Das Gepiepe ausgehungerter Mäusebussardküken.
    Die Duse lächelte immer, wenn sie sang, und bei der Santarellina war es der einzige Moment, an dem sie es nicht tat. Sie sangen das Lied von Albanien, das über eine Liebe, die wegfährt, sie sangen Tangos, sie sangen andere Lieder, an die ich mich nicht recht erinnere, die aber voller skandalöser und rasender Liebe waren, dass der Duse am Ende des Liedes die Arme wehtaten und sie kurz aufhören musste, um sie auszustrecken. Ich denke, das waren Lieder, die die Santarellina beigesteuert hatte, es konnten nicht die eines Mädchens sein, das mit dem Gesang eines russischen Soprans aufgewachsen war. Ich glaube, dass die Santarellina sie gelernt hatte, als sie die Straße der TODT baute; das scheinen mir passende Lieder für die Stimmen der Frauen aus Vagli zu sein.
    Sie liebten sich, die beiden Mädchen, gewiss, doch so sehr, wie sie sich auch liebten, es genügte nicht, um ihre Verbindung zu erklären. Diese beiden sind ihr ganzes Leben zusammen gewesen. So zusammen, wie sie sein konnten, aber stets auf eine Art, die mir vielleicht wie die von zwei Schwestern, vielleicht wie die von zwei Eheleuten vorkam. Ich müsste die Materie besser kennen, ich hätte die Duse besser kennen müssen, und ich müsste mit dem Lächeln der Santarellina besser vertraut sein, dann könnte ich vielleicht in aller Offenheit sagen, dass sie sich geliebt haben.
    Zum ersten Mal habe ich das gedacht, als ich vom Friedhof zurückkam, wo wir die Duse begruben, als ich Nita bei der Santarellina untergehakt sah, wie sie sich ansahen und wie sie miteinander sprachen. Ich dachte wieder daran, wenn mir die Duse und ihr Akkordeon, ihre Stimme und ihre Lieder einfielen: dass sich die Santarellina in die spielende Duse verliebt hat. Sie hat sich in die Musik und in dieses Mädchen verliebt, das diese umgehängt mit sich trug. Ich hätte das auch tun können, wenn ich wenigstens unter diesem Gesichtspunkt ein freierer Mann gewesen wäre. Ich kenne die Liebe nicht, die sie vereint hat; ich weiß nicht, wovon ich spreche, und vielleicht ist es ungerecht, dass ich mir diese Freiheit nehme. Doch jetzt hätte ich gern mehr begriffen. Jetzt, da Nita schwanger ist und ich lange genug leben werde, um das zu sehen,

Weitere Kostenlose Bücher