Himmelsmechanik (German Edition)
ist. Und da ihr Bedürfnis zu leben in diesem Moment weder Grenze noch Maß kennt, bekommen sie Lust nach einer Tüte voll gebratener Akazienblüten. Und sie werden mich darum bitten. Dafür müssen sie bis Mai warten, auch wenn sie nicht warten können.
Einstweilen schlafen sie, und im Schlaf ist der Informationsaustausch zwischen ihnen langsam und ununterbrochen. Wie eine Unterhaltung bei einer Abendgesellschaft, das rastlose Dahinfließen eines Märchens der Santarellina. Irgendwo da unten wird eine Waise geschaffen, und die Waise führt die Spezies fort. Als gäbe es kein anderes Schicksal, als ob auf dieser Erde nur das Waisentum kräftig gedeihen könnte, und als ob man nur hier wirksam etwas heilen könnte, indem man die Waisen zur poetischen Bestimmung des Ruhms hinwendet. Warum habe ich Nita geschwängert und damit einen schnellen, sicheren Prozess der Witwenschaft und des Waisentums ausgelöst, wenn nicht deswegen, weil meine Lenden von der poetischen Gewissheit genährt werden, dass aus dieser Zeugung etwas Gutes herauskommen würde, und aus dem Guten ein Bestes? Warum ist Nita so stolz auf ihre Schwangerschaft, so glücklich ihrer zukünftigen Witwenschaft zustrebend? Warum hat die Duse abgewartet, dass der Kanonenbeschuss zu Ende war, sich ihr Akkordeon umgehängt und sich auf das Geländer des Ponte di Campia gesetzt, um ihr Schicksal zu erwarten, um für sie zu spielen, für die Waise, die kommen würde?
Weil man den Krieg leid war
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Die Massaker und die vereinzelten Toten; dann alles andere, was im Herbst ’44 noch kommen sollte. Und es stimmt, dass man sich daran gewöhnen kann, alles zu tun, doch es ist nicht menschenmöglich, sich mit dem abzufinden, was man sieht und was man hört. Denn das, was man tut, geht vorbei, doch alles, was man sieht und was man hört, bleibt ewig, und während es bleibt, wächst und wächst es; und wenn das seine Aufgabe ist, dann würgt es das Leben ab und erstickt es wie ein Krebs.
Den Frauen zuzuhören, die kamen und von Sant’Anna erzählten, war schlimmer, als dort gewesen zu sein; die Schreie eines Menschen zu hören, den man auf der Straße sterben ließ, ist schlimmer, als umgebracht zu werden. Das Pfeifen der Granate zu hören, die durch den Himmel rauscht, schlimmer, als in die Luft zu fliegen; zu sehen, wie ein Junge aufgehängt wird, schlimmer, als selbst aufgehängt zu werden.
Ich weiß, dass Marta, die Kurierin, eines Nachts losging, um die Leiche von Falco, dem Jungen von Valanga, zu holen; einem der wenigen, die es schafften, ins Tal hinunterzusteigen, dem die Miliz auf der Straße im Wald oberhalb seines Hauses in den Rücken schoss und den sie dort liegen ließ, damit er verfaulte. Ich weiß, dass nicht ihr Pflichtgefühl sie dazu brachte, nicht die christliche Nächstenliebe und auch nicht die Tatsache, dass dieser Junge ein Freund von ihr war, der im selben Monat geboren und mit ihr aufgewachsen war. Was sie nachts aus dem Haus gehen ließ, sie dazu brachte, mit ihrer Azetylenlampe bei voller Ausgangssperre die Patrouille der Miliz herauszufordern, bis auf die Knochen nass zu werden bei einem dieser Oktoberstürme, die aus dem Nichts auftauchen und wie die Herausforderung des Dämons ins Nichts zurückkehren, was ihr die Kraft gab, sich diesen nassen Körper auf die Schultern zu laden und ihn bis zum Friedhof von Trasillico zu tragen, was ihr die richtigen Worte in den Mund legte, um den Pfarrer zu überreden, sein Haus zu verlassen und beim Messner zu klopfen, um einen ordnungsgemäßen Gottesdienst abzuhalten und den Jungen zu segnen und ihn auf der Stelle zu beerdigen, damit sich bei Marta das alles einstellen konnte, dazu bedurfte es der Verzweiflung ihrer Augen, der Angst, ihn auf Ewigkeit unbeerdigt auf der Straße verfaulen sehen zu müssen. Marta wäre mit ihm zusammen verfault.
Als Marta ihrem Kommandanten den Bericht über das Geschehene schreibt, formuliert sie:
Die angeblichen Patrioten, die nicht mit mir kommen wollten, haben sich dessen, was sie gesehen haben, nicht geschämt
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Marta war noch keine achtzehn Jahre alt, war nach der sechsten Klasse nicht mehr zur Schule gegangen und nähte Wäsche. Sie schreibt weiter:
Als ich Falcos Leiche auffand, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten, aber ich konnte mich beherrschen, denn eine italienische Frau kann alles, wenn sie der Schwäche nicht nachgibt
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Nichts zermürbt so wie das Hören und das Sehen, es gibt keine größere Schande, als gesehen zu haben und gehört zu haben.
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