Himmelspfade - Engel weisen uns den Weg
vorbei, aber ich beachtete sie nicht weiter. Wir liefen ein langes Stück, aber es war überhaupt nicht anstrengend.
Dann blieben wir stehen. Der Dunst war auf einmal wie weggeblasen. »Wir sind da, Lorna«, sagte Amen und wandte sich mir zu. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. Vor uns befand sich ein dünner Vorhang wie aus Seide. Er hatte offenbar weder Anfang noch Ende. Ich hob die Hand, um ihn zu berühren, aber Amen hielt mich davon ab. Allmählich verblasste der Vorhang und löste sich schließlich ganz auf, und damit verschwand auch der Engel Amen.
Ich befand mich nun ganz allein in einer gigantischen Bibliothek. Endlose Regalreihen standen darin, in denen sich Bücher bis weit hinauf stapelten. Die obersten Regalfächer konnte ich nicht sehen, da sie hoch oben in einem schwebenden Dunst verschwanden. Jedes Regal war mit kunstvollen Holzschnitzereien verziert. Sie passten zu den Schnitzereien an den Beinen der langen Tische im Raum. Diese Tische waren riesig. Ich konnte mich nicht einmal bis zur Tischkante strecken, und jeder Tisch war so lang wie ein ganzer Stall. Um die Tische standen in unregelmäßigen Abständen jeweils drei bis fünf Stühle. Die Stühle hatten Schnitzereien an den Armlehnen und Beinen, die Rückenlehne aber war glatt und ohne Verzierungen. Auf den Tischen häuften sich zahlreiche Bücher, sowohl Bücherstapel als auch einzelne Exemplare, die aufgeschlagen dalagen, als würde sie gerade jemand lesen.
Alles in dieser Bibliothek war riesig – Bücher, Tische, Stühle und Regale. Zwischen den Tischen befanden sich riesengroße kanzelähnliche Gebilde. Sie hatten die Größe eines kleinen Hauses. Seitlich führte jeweils eine Treppe zu einer großen Standfläche hinauf. Jede Kanzel sah anders aus, und alle wirkten ganz neu. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Aber das Unglaublichste in dieser riesigen Bibliothek war die gigantische Wendeltreppe, die sich in einiger Entfernung rechts von mir befand. So wie die Regale wirkte auch sie endlos. Sie wand sich nach oben und verlor sich dann in dem Dunst, der über der Bibliothek lag. Es schien auch so, als würde die Treppe durch den Boden hindurch weiter nach unten führen. Sie war so ganz anders als alle Wendeltreppen, die ich bisher gesehen hatte. Sie schimmerte in einem weißgoldenen hellen Licht.
Plötzlich war auf der Treppe sehr viel Bewegung. Engel und Seelen schritten hinauf und hinunter. Sie gingen offenbar durch den Boden hindurch. Einige stiegen hinauf und wurden von anderen passiert, die auf ihrem Weg nach unten waren. Da sah ich mir den Boden zum ersten Mal genauer an. Anfangs hatte ich den Eindruck gehabt, er sei aus Marmor. Aber jetzt, wo ich genauer hinsah, bemerkte ich, dass es kein Marmor war, wie ich ihn kannte. Durch den Boden hindurch konnte ich Licht und Bewegungen erkennen. Staunend stellte ich fest, dass er durchsichtig war. Jetzt schaute ich noch genauer hin und konnte richtig durch ihn hindurchsehen. Die große Wendeltreppe wand sich nach unten, und ich erkannte Seelen und Engel, die eine Etage tiefer unterwegs waren. Ich ging in die Hocke, um mir alles genauer anzusehen und den Boden zu berühren.
Da tippte mir ein wunderschöner Engel an die Schulter und sagte: »Nein, Lorna. Du kannst in dieser Bibliothek hingehen, wo du möchtest, aber fass nichts an!« Dann verschwand der Engel wieder. Ich war enttäuscht, wusste aber instinktiv, dass ich keine Fragen stellen sollte.
In der Bibliothek war ausgesprochen viel los. Fast kam ich mir wie ein Eindringling vor, der eigentlich gar nicht dort sein sollte. Die Bibliothek wirkte wie ein Ort, in den ich in der normalen Welt in meinem jungen Alter niemals eingelassen worden wäre. Doch die Engel und Seelen waren mit meiner Anwesenheit einverstanden und nickten mir zu, als hätten sie mich erwartet. Auf der Wendeltreppe herrschte immer noch reger Betrieb. Drei der Seelen, die ich dort sah, waren Apostel, so sagte man mir. Alle Seelen waren sehr viel größer als ich. Sie hatten die richtige Größe für die Bibliothek. Und die Engel um sie herum waren sogar noch größer.
Soeben war der Apostel Petrus die Treppe herabgestiegen und schritt nun, gefolgt von vier Engeln, ungefähr in meine Richtung. Er sah aus wie ein stattlicher, reifer Mann mit dunklem, zerzaustem Haar. Seine Augen strahlten, aber seine Miene war ernst und nachdenklich. Die Engel, die ihn begleiteten, blieben bei einem Tisch stehen und blätterten in den Büchern, die darauf lagen. Dabei machten sie sich
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