Himmelspfade - Engel weisen uns den Weg
hätten. Man konnte das alte Bauernhaus damals nicht abschließen. Es waren nur Holzplatten vor den Fenstern und eine Leichtbauplatte vor der Tür. Ich rief Michael. Sofort erschien er im Hauseingang. Er trug einen leuchtend gelben Bauhelm auf dem Kopf und hatte eine Schaufel in der Hand. Er sah so strahlend aus wie immer, und in der Sonne funkelten seine Augen voller Licht und Leben. Er erleuchtete das alte Bauernhaus. Er trat ins Zimmer und berührte meine Schulter. Die Schaufel in seiner Hand verschwand.
»Du hast mich gerufen, Lorna.«
Ich sah ihn an. »Deine Schaufel ist verschwunden, Michael, aber du hast immer noch den Helm auf!« Wir lachten beide. »Danke, Michael, du schenkst mir Gelassenheit«, sagte ich. Ich war sehr angespannt, seit er mir gesagt hatte, dass ich in das alte Bauernhaus ziehen und in einem Zelt wohnen sollte. Ich fand die Vorstellung, ohne einen zweiten Erwachsenen auf einer Baustelle zu wohnen, sehr unheimlich. Michaels Anwesenheit beruhigte mich.
»Du schaffst das, Lorna«, sagte Michael. »Denke immer daran, dass die Engel bei dir sind. Gott kennt all deine Ängste und Befürchtungen. Ich soll dir von Ihm ausrichten, dass du versuchen solltest, sie abzulegen.« Dann wurde er wieder praktisch. »Jetzt solltest du zu den Brennans gehen und sie fragen, ob du dir das Zelt und die Luftmatratze ausleihen darfst.«
Michael berührte mich am Kopf und verschwand. Ich zog die provisorische Tür hinter mir zu und ging langsam zum Auto zurück.
Als wir auf das Tor am Haus der Brennans zufuhren, stand Maura gerade im Eingang, und hinter ihr versteckten sich ihre kleineren Kinder. Sie freuten sich über unseren Besuch, und wir unterhielten uns bei einem Tee und Sandwiches. Ich erzählte Maura und Oma Brennan von meinem Plan, trotz des noch sehr rohbaumäßigen Zustands in das Haus zu ziehen. Sie boten uns an, in ihrem Wohnzimmer zu wohnen. Das war sehr nett gemeint, aber ich beharrte darauf, in dem alten Bauernhaus zu wohnen. Aber wir sollten wenigstens zum Duschen und abends zum Essen zu ihnen kommen, schlugen sie mit Nachdruck vor. Und natürlich boten sie mir, ohne dass ich überhaupt danach gefragt hätte, ein Zelt und eine Luftmatratze an, genauso wie Michael es mir versprochen hatte.
Ein paar Wochen vergingen, und in dieser Zeit stellte ich die Sachen zusammen, die wir unbedingt brauchen würden. Ich betete darum, dass die Engel mir den richtigen Zeitpunkt für den Umzug in das Haus zeigen würden.
Es war ein regnerischer Tag im Juni 2002. Ruth hatte am Vortag ihre letzte Prüfung bestanden. Ich wartete mit dem Einkaufen, weil ich hoffte, der Regen würde nachlassen. Am Nachmittag schließlich lugte die Sonne immer wieder kurz zwischen den Wolken hervor. Megan und ich zogen unsere Regenmäntel und Gummistiefel an und gingen los. Es war kalt, aber der Regen hatte aufgehört. Auf unserem Weg ins Dorf planschte Megan mit den Füßen in den Pfützen. Wir erledigten unsere Einkäufe, aber kaum waren wir am Anfang der Straße angekommen, die zu unserem Haus führte, wurde es wieder dunkel, und ein heftiger Regen prasselte herunter.
»Komm, wir spielen ›Der Regen berührt mich‹«, schlug ich vor. Megan war hellauf begeistert. Während wir Hand in Hand weitergingen, forderte ich sie auf, die andere Hand auszustrecken und zu spüren, wie der Regen sie berührte. Das tat Megan und sagte dann ganz aufgeregt: »Mam, ich kann auch spüren, wie der Regen mich im Gesicht berührt.« Dabei lachte sie. Sie streckte die Zunge heraus und versuchte, ein paar Regentropfen aufzufangen. Wir rannten ein Stück und gingen dann wieder normal weiter. Auf diese Weise waren wir in null Komma nichts bei unserem Häuschen. Wir waren nass bis auf die Knochen. Megan rannte mit ausgestreckten Armen im Garten im Kreis herum. Ich selbst konnte nicht schnell genug nach drinnen kommen, aber sie bettelte darum, noch ein wenig im Regen bleiben zu dürfen.
Hastig drehte ich den Schlüssel im Schloss um, weil ich unbedingt aus dem Regen herauskommen wollte. Da erschrak ich heftig! Direkt hinter der Tür stand der Engel Kaphas. In all den Jahren, seit ich ihm zum letzten Mal begegnet war, hatte er sich nicht verändert. Damals war er gekommen, um mir zu sagen, dass mit Joe etwas Besonderes geschehen würde. Auch nun bot er so wie früher einen denkwürdigen Anblick – er war beeindruckend und prachtvoll. Er schien gänzlich aus gleich großen gezackten Glassplittern zu bestehen. Seine Gesichtszüge waren sehr scharf, und
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