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Himmelsschwingen

Himmelsschwingen

Titel: Himmelsschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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Zweifel in seinem Herzen zu verschließen.
    Samjiel hatte sich gefügt und es mit anderen Wissensdurstigen danach ebenso gehalten. Aus Bequemlichkeit, wie er heute zu ahnen begann, und weil er die Antworten nicht kannte. Doch in letzter Zeit wollten sich die Fragen nicht mehr fortsperren lassen, sie wurden lebendig und lauter und außerordentlich beunruhigend, bis es schließ lich nur noch ein Mittel gegeben hatte, ihnen zumindest vorübergehend zu entkommen. Ausgerechnet ein gefallener Engel hatte ihm anvertraut, wie man die quälenden Empfindungen betäuben und die Versuchung vergessen konnte. Zweifellos besa ßen die Gefallenen große Erfah rung in diesen Dingen, da sie sich immerwährend gegen die Einflüsterungen der Unterwelt zur Wehr setzen mussten.
    Der Delinquent hatte sich damit die Freiheit erkaufen wollen. Samjiels unbestechliche Klinge war jedoch ohne Gnade in das abtrünnige Herz gefahren und hatte den vergeblich Hoffenden endgültig von allen weltlichen Verlockungen befreit.
    Vielleicht nicht das schlimmste Schicksal.
    Reflexartig berührten seine Finger den Griff des Schwerts, als wollte er sichergehen, dass es noch in der Scheide steckte, in der die tödliche Klinge vor dem Blick eines jeden – ob Freund, ob Feind – verborgen blieb, bis es zu spät war, die eigene Waffe zu ziehen. Mit der anderen Hand griff er nach dem Drink und kippte ihn in einem Zug hinunter. Was er in der Suppenküche erlebt hatte, wollte ihn nicht loslassen. Die schlichte Hingabe, mit der diese Galina erst den alten Mann und dann den Jungen behandelt hatte, zeichnete ein vollständig neues Bild von einem gefallenen Engel. Neu vielleicht nicht , dachte er, denn wenn er ehrlich zu sich war – und das war ein Repräsentant der Gerechten immer –, dann hatte es ihn nie besonders interessiert, wie die gefallenen Engel die Zeit vor ihrer Exekution verbrachten. Sie waren eine Gefahr für die Ordnung der Welt und sehr viel schwieriger zu bekämpfen, sobald sie sich zu Luzifer bekannt und von seinem Feuer gekostet hatten. Die Erkenntnis, dass seine bisherige Ignoranz möglicherweise Unschuldige das Leben gekostet haben mochte, erschütterte ihn.
    Schuldlos wird niemand aus Elysium verbannt , hörte er Michaels Stimme und hätte sich beinahe umgedreht, so nah klang sie. Den Kopf im Nacken, ließ er den nächsten Drink die Kehle hinunterrinnen.
    Die Frau hinter dem Tresen schenkte wortlos nach, denn inzwischen wusste sie, es würde viel mehr als den Inhalt dieser halb leeren Flasche brauchen, um ihren schweigsamen Gast zufriedenzustellen.
    In den ersten Tagen hatte man ihm einige der jungen Prostituierten angeboten, die viertelstündlich auf einer kleinen Bühne erschienen. Im Takt der Musik wanden sie sich dort in trauriger Imitation der einzigartigen Verführerin Lilith wie eine Schlange, die das zu eng gewordene Schuppenkleid abzulegen versuchte. Alles war hier dezent, der Service, die verschwiegenen Separees und sogar die Drogensüchtigen. Weil er keinem der Mädchen mehr als nur einen flüchtigen Blick schenkte, schickte man ihm Knaben. Tabletten, Pilze und Pülverchen folgten, doch als man eine Ziege herbeigeschafft hatte, hatte es Samjiel gereicht. Er hatte der Barkeeperin die Flasche aus der Hand genommen und sie in einem Zug ausgetrunken. Seither hatte er Ruhe.
    Unter Lidern, die er halb geschlossen hielt, um sich nicht durch eine Unachtsamkeit zu verraten, beobachtete er nun, wie ein breiter Strahl des Elixiers am Boden seines Gla ses aufprallte, dort unten regelrecht explodierte, an den glat ten Seiten hochschoss, zurückspülte und schließ lich einen linksdrehenden Strudel bildete. Der Wirbel drehte sich immer wieder links herum, bis die Wogen geglättet waren und Samjiel sein verzerrtes Spiegelbild darin erblickte.
    Vielleicht , dachte er, war dieses Abbild der Grund dafür, dass die Trinker ihr Glas so schnell leerten.
    Im Grunde war es ihm gleichgültig, die Physik des Stru dels aber machte ihm zu schaffen. Er hatte Stunden damit verbracht, darüber nachzudenken, woran das liegen konnte. Heute entschied er für sich, dass die Linkshändigkeit der Barkeeperin für das Phänomen verantwortlich sein musste und bat sie, mit rechts einzuschenken, damit er seine Theorie überprüfen konnte.
    Sie tat ihm den Gefallen, und er verfolgte gebannt, wie sie eine neue Flasche öffnete, sie in die andere Hand nahm, wie sich der Flaschenhals senkte … und alles war wie zuvor. Wieder wirbelte die Flüssigkeit gegen den Uhrzeigersinn.

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