Himmelsschwingen
Enttäuscht leerte er das Glas und lehnte sich zurück.
»Glaubst du, das Wasser des Lebens hilft dir dabei, die Geheimnisse dieser Welt zu ergründen?«, fragte eine dunkle Stimme zu dicht neben ihm.
Schneller als der Fremde blinzeln konnte, hatte Samjiel sein Schwert gezogen und hielt es nun an dessen Hals gepresst.
Der hob die Hände wie zur Beschwichtigung, wirkte aber überhaupt nicht beunruhigt. »Ich darf doch bitten!« Behutsam nahm er die Klinge zwischen Daumen und Mittelfinger und schob sie ein Stück beiseite. »Wir legen größten Wert auf Diskretion!«
Diese manierierte Geste, begleitet von einem feinen Lächeln, zeigte Samjiel, dass ihn sein Gegenüber sehr wahrscheinlich für harmlos hielt.
Vielleicht war er nicht ganz so reaktionsschnell gewesen, wie er geglaubt hatte. Samjiel ließ die Waffe sinken und steckte sie zurück in die verborgene Schwertscheide, dabei gab er ein kehliges Geräusch von sich, das als Entschuldi gung verstanden werden konnte, mit dem er tatsächlich aber seinem Ärger Luft machte. Ein unverzeihlicher Fehler, den anderen nicht rechtzeitig bemerkt zu haben und die reflexartige, wenn auch verspätete Reaktion hätte seine mi litärische Herkunft überdies beinahe verraten.
Wie nur die besonders altgedienten von Michaels Krie gern verstand er sich darauf, seine wahre Identität vor anderen Engeln zu verbergen. Ein Vorteil, den er schon oft genutzt hatte, um die Gefallenen, auf die er angesetzt war, in trügerischer Sicherheit zu wiegen, bis sie ihrem Schicksal nicht mehr entfliehen konnten.
Dieses Mal aber war er nicht gekommen, um zu töten. Schon gar nicht in einem Refugium, einem neutralen Ort, an dem die magische Bevölkerung, ungeachtet ihrer Abstammung, Frieden hielt und, wie in diesem Fall, fremde Besucher dem zuständigen Protektor ihre Referenz erwiesen. Üblicherweise ignorierten Engel diese stillschweigende Übereinkunft und standen nun in dem Ruf, arrogant und unkooperativ zu sein. Samjiel konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt einem Statthalter seine Aufwartung gemacht hatte.
Bei dieser Mission war es für ihn jedoch Teil seiner Tarnung gewesen, sich ausnahmsweise an die üblichen Ge pflogenheiten zu halten. Doch als er sich ihm hatte vorstellen wollen, hatte der hiesige Repräsentant der ma gischen Welt keine Zeit gehabt und lediglich ausrichten lassen, er sei willkommen, sofern er keinen Ärger mache.
Seine wahre Natur von Anfang an zu verbergen, hatte sich als ungeheurer Vorteil herausgestellt. Damit war er für keinen seiner Kameraden auffindbar – nicht einmal ohne Weiteres für den Erzengel Michael, der sich glücklicherweise selten um das Tagesgeschäft kümmerte, das er schon vor einer halben Ewigkeit seinem besten General über antwortet hatte.
Warum es Iris nahezu mühelos gelungen war, seine Maske zu durchschauen, hätte er sie gern gefragt. Doch das musste erst einmal warten, bis sie ihn wieder aufgespürt hatte. Der Gedanke entlockte ihm ein Lächeln. Diese Wächterin hatte es geschafft, ihn aus seiner Lethargie zu reißen. Sie erschien ihm beunruhigend und faszinierend zugleich, und bestimmt wäre es besser gewesen, ganz schnell das Weite zu suchen und sich vor ihrem gefährlichen Charme in Sicherheit zu bringen. Entscheidungen, die seinem eigenen Schutz dienten, traf er jedoch längst nicht mehr – falls er das überhaupt je getan hatte.
»Das bringt nichts.« Der Fremde saß nun auf dem Barhocker neben ihm, zeigte auf das inzwischen wieder aufgefüllte Glas und prostete ihm zu.
»Wenn du das sagst.«
Der Alkohol dämpfte den Aufruhr der immer stärker an die Oberfläche seines Bewusstseins drängenden Gefühle. Und zwar so erfolgreich, dass Samjiel die Nähe dieses Die ners der Unterwelt ertrug, ohne den Wunsch zu verspüren, ihn auf der Stelle zu töten.
Damit, so hätte er dem Dunklen Engel an seiner Seite erklären können, hatte alles angefangen. Mit der Lust am Töten. Und weil das Schicksal einen Humor mit Hang zum Absurden pflegte, war dies inzwischen nicht einmal mehr sein größtes Problem. »Wir sehen uns in der Hölle!«, fügte er hinzu, als wäre es ein beliebter Trinkspruch, und stürzte den Schnaps hinunter.
Der andere lachte. »Dann wünsche ich dir eine gute Reise, mein Freund.«
Vermutlich hielt er ihn für jemanden, dessen Zukunft längst entschieden war und der früher oder später ins Lager der Dämonen wechseln würde.
Soll er doch. Samjiel machte sich nicht die Mühe, die Gedanken des anderen zu
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