Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
seine Musik ertönt, und er steigt in den Boxring oder in die Kapsel – die gleiche Prozedur. Ich habe früher ja mal geboxt, und dann sitzt du 20 Jahre später da und denkst: Das ist jetzt ein größerer Gegner, ein größerer Kampf.
Dann kommt Luke Aikins rein, unser Fallschirmexperte. Er hilft Mike dabei, den Fallschirm richtig anzulegen und die Gerätschaften zu justieren. Irgendwann sind die beiden so weit: »Okay, are you ready to close?« Und dann kommt diese Bewegung mit der Hand, mit der ich das Visier schließe. Von nun an bin ich wirklich abgeschottet, nicht mehr in dieser Welt, sondern in meiner eigenen. Der Moment, in dem die Zellentür wieder zugeht. Du hast deinen Freigang gehabt, und jetzt geht’s wieder in die Zelle, die Tür fällt ins Schloss, und du sitzt wieder einen Tag lang da, bis zum nächsten Freigang. Du nimmst noch einmal einen tiefen Atemzug aus der wahren Welt und bist dann in deiner eigenen. Wenn ich das nächste Mal frische Luft atme, knie ich mit dem Helm in der Hand im Wüstensand – in vier oder sechs Stunden, je nach den Windverhältnissen. Jetzt bloß keinen Rückfall wegen des Anzugs! Ich versuche, nur an die Entlassung zu denken, an Freiheit für immer.
Die Dichtheitsprüfung. Der Anzug war stets top gewartet worden, wurde behandelt wie eine zerbrechliche Vase. Und er ist dicht. Dann der Sauerstoff. Eine Stoppuhr läuft mit, damit ich auch keine Sekunde weniger als eine volle Stunde lang reinen Sauerstoff atme. Sonst hätte ich noch zu viele Stickstoffbläschen im Blut, die dann größer werden und Blasen bilden und so heftige Schmerzen in den Gelenken verursachen würden, dass ich die ganze Geschichte abbrechen müsste. Ich sitze da, atme und versuche, einen kühlen Kopf zu behalten. Dann kommen die Gedanken wieder: Wie geht das alles aus? Was ist, wenn jetzt irgendetwas nicht funktioniert, wenn etwas nicht passt? Die ganze Welt sieht doch zu, sieht auch den Misserfolg. In diesem Fall würdest du am liebsten im Erdboden versinken. Oder du stirbst, und deine Freunde, Eltern und die Freundin schauen zu. Grausames Kopfkino. Aber ich bin optimal vorbereitet und habe Vertrauen in die Ausrüstung, in mein Team und last but not least in mich selbst. Mein Partner Red Bull hat wie immer für maximale Sicherheit gesorgt. Ärzte sind vor Ort. Wir haben uns gut abgesichert. Da müsste jetzt schon viel schiefgehen. Aber dieses Worst-case-Szenario kommt trotzdem immer wieder hoch. Mir fällt die Geschichte mit dem Bolzenschneider wieder ein.
Morgens im Bad meines Trailers hatte ein Bolzenschneider in der Ecke gestanden, und ich fragte Mike Todd: »Warum steht das Ding da?« Und er meinte: »Ach ja, den muss ich noch in den Hubschrauber legen. Für den Fall, dass du verletzt am Boden ankommst, dann muss ich dich aus dem Anzug rausschneiden.« Im Anzug gibt es einen Nackenring, die Verbindung zwischen Anzug und Helm, der bruchsicher sein muss. Daher der Bolzenschneider. Vor meinem inneren Auge entstand sofort ein Bild: Ich liege am Boden und kämpfe ums Überleben, bin vielleicht noch bei Bewusstsein oder schon halb im Koma – und sehe plötzlich einen Typ mit einem riesigen Bolzenschneider auf mich zukommen. Fünf Jahre steckte ich nun schon in diesem Projekt und hatte noch nie etwas von diesem Bolzenschneider mitbekommen. Den musste Mike ja auch bei den Testsprüngen immer im Hubschrauber mit dabeigehabt haben. Er hat sich wahrscheinlich gedacht: Das braucht der Felix nicht zu wissen. Es reicht, wenn wir es wissen. Aber gut, dass ich Mike gefragt habe. So gab es für mich selbst am letzten Tag noch was zu lernen, noch eine kleine Überraschung.
Ich sitze immer noch im Trailer, atme Sauerstoff und muss viel trinken. Es gibt zwei verschiedene Sorten von Sauerstoff: den etwas feuchteren medizinischen Sauerstoff und den sogenannten Aviator-Sauerstoff. Der trocknet einem komplett die Atemwege aus. Deswegen muss ich ständig Flüssigkeit aufnehmen – und entsprechend oft urinieren. Dazu gibt es das Urine Collective Device, kurz UCD . Eine Art überdimensioniertes Kondom, das alle Astronauten benutzen. Eigentlich kein großes Thema, aber man muss den Umgang damit trainieren. Am Anfang ist es sehr irritierend, weil man gewohnt ist, beim Pinkeln alles rauszulassen. Mit dem UCD muss man sich beherrschen, weil es nur eine gewisse Menge aufnehmen kann, die dann erst mal wieder abfließen muss. Deshalb ist es wichtig, die Blase gar nicht erst komplett voll werden zu lassen. Ergo: Je früher man
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