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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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fröhliche Funkeln in seinen Augen zeugte, gehörte er zu den Menschen, deren Großherzigkeit und Freigebigkeit sie größer aussehen ließen, als sie waren.
    Er war erst achtundzwanzig und galt in Fachkreisen als eine Art Wunderkind, als Spezialist einer neuen Technologie namens MRT . Es war Vaters Idee gewesen, an Nathan heranzutreten, um Aufnahmen des Gehirns von Patienten zu erstellen, die mit Antidepressiva behandelt wurden. Ihre Arbeit katapultierte sie nach wenigen Jahren an die Spitze der neurologischen Forschung. Vater sprach von ihnen beiden gern als von »Pionieren«, eine Bezeichnung, die Nathan gar nicht gefiel. Eines Abends, erinnere ich mich, in einer Innenstadt-Pizzeria ganz in der Nähe von ihrem Labor – ich war sieben oder acht Jahre alt; Mutter und ich hatten sich mit ihnen nach der Arbeit zum Essen getroffen –, sprach Vater wieder davon und wurde von Nathan prompt zurechtgewiesen.
    »Wir waren nicht die Ersten, die so was gemacht haben, Naveed.«
    »Spitzfindigkeiten, Nate. Reine Spitzfindigkeiten.«
    »Das sagst du ständig, aber wir sind es nicht. Es hat andere gegeben, lange vor uns. Das weißt du.«
    »Okay, Nate. Vielleicht waren wir nicht die Ersten « – Vaters Mund stand offen, während seine unvollendete Erwiderung im Raum schwebte, eine Pause, die er lediglich der Wirkung wegen einlegte – »aber du kannst nicht abstreiten, dass wir die Besten sind, oder?«
    »Ich wusste nicht, dass es sich hier um einen Konkurrenzkampf handelt.«
    »Alles ist ein Konkurrenzkampf, Nate. Alles.«
    »Wie deprimierend. Wie kommst du mit einer solchen Einstellung morgens überhaupt aus dem Bett?«
    Vater antwortete nicht, hatte aber plötzlich ein boshaftes Lächeln im Gesicht.
    »O nein.«
    »Was?«
    »Dein Blick.«
    »Mir ist gerade ein Witz eingefallen.«
    »Erzähl.«
    »Ich weiß nicht, ob er dir gefällt.«
    »Wieder ein Witz über Juden?«
    »Möglich.«
    »Dann will ich ihn nicht hören.«
    »Du hast recht, du hast ja recht.«
    »Gut, erzähl schon!«
    »Dachte, du wolltest ihn nicht hören?«
    »Mach schon, Naveed.«
    »Also, warum haben Juden so große Nasen?«
    Nathan stöhnte. »Ach Gott, Naveed, der hat sooo einen Bart.«
    »Okay. Wie lautet die Antwort?«
    »Weil die Luft nichts kostet.«
    Vaters Miene hellte sich auf, sein Kopf, sein ganzer Körper vibrierte, während er ein pfeifendes Geräusch ausstieß – seine Lache war ebenso seltsam wie ansteckend. Kurz darauf bogen wir uns alle. Sogar Nathan.
    Die beiden waren in so vielem so unterschiedlich: Nathan stammte aus Boston, war Jude, urban und kontaktfreudig; Vater stammte aus einem Dritte-Welt-Dorf, war Muslim, grobschlächtig und bissig. Ihre Kollegen im Krankenhaus nannten sie nur das Seltsame Paar. Aus gutem Grund. Die zahllosen Stunden, die Vater und Nathan zusammen im Radiologielabor verbrachten, boten ihnen mehr als genügend Gelegenheit, ihre »Show« einzustudieren, wie ihre Mitarbeiter es nannten; sie bestand vor allem darin, dass Nathan den Vernünftigen gab, während sich mein Vater in bedenklicher Albernheit verlor. Vater zog Nathan ständig auf: Er machte sich über sein Aussehen lustig, über seinen Neuengland-Akzent, über die Tatsache, dass er unser scharfes Essen nicht vertrug, und, ja, dass er Jude war. Meistens aber zielten Vaters Sticheleien auf Nathans Liebe zur Kultur: zum Theater, zur Musik, zur bildenden Kunst und vor allem zur Literatur.
    »Wie geht es Dr. Wolfsohn?«, fragte Mutter einmal beim Abendessen, worauf mein Vater sofort hochging.
    »Dieser Volltrottel! Hat beim Mittagessen eine Stunde lang einen Roman gelesen, nicht zu fassen! Welche Vergeudung von Hirnressourcen!«
    Vater machte aus seiner Abscheu vor Büchern keinen Hehl. Er war fest davon überzeugt, dass sein Erfolg, der angesichts seiner bescheidenen pakistanischen Herkunft mit Fug und Recht als ungewöhnlich bezeichnet werden konnte, hart erkämpft war, so hart, dass er von allen als leuchtendes Vorbild angesehen werden sollte. Dieser Erfolg, behauptete er, war nicht das Ergebnis von »Bücherwissen«, sondern von »Lebenserfahrung«. Er rühmte sich, kein einziges Buch gelesen zu haben, noch nicht einmal zu seinem Fachgebiet – ein seltsamer Kommentar, der in vielfacher Hinsicht interpretiert werden konnte: als Bekenntnis zum amerikanischen Mythos, wonach sich der Einzelne durch seine Taten, nicht durch seine Gedanken definierte; als Ausdruck seiner eigenen unwiderstehlichen Großartigkeit; als Maß für seine wahrhafte Missachtung von

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