Himmelssucher - Roman
Bild bei mir festgesetzt: Mr. Gervitz, der alte Hausmeister meiner Schule, ein glatzköpfiger, hagerer Mann, der durch die Flure wackelte und seine mit Rädern versehene Mülltonne hinter sich her zog.
»Ich will dir von einem Derwisch erzählen, der zu Fuß durch die Welt gezogen ist. Und unterwegs hat er nur an Allah gedacht, den ganzen Tag. Auf der Suche nach Gott hat er alles aufgegeben, Betha. Er hat so viel aufgegeben, dass er auf die Güte der Fremden angewiesen ist, die ihm zu essen geben, und nachts schläft er auf der Straße, unter freiem Himmel …«
»Er ist ein Obdachloser«, sagte ich.
»Er ist nicht nur obdachlos, Hayat. Ich rede von einem Sufi. Einem Sufi-Derwisch. Der sein Leben einzig und allein Allah gewidmet hat. Es war seine Entscheidung, alles aufzugeben.«
Ihre Worte ergaben für mich keinen Sinn. »Tante, warum sollte sich jemand dafür entscheiden, obdachlos zu sein?«
»Wenn man alles aufgibt, seine Heimat, seine Familie, seine Arbeit, dann steht nichts mehr im Weg, dann liegt nichts mehr zwischen dir und Gott.«
Mina bemerkte, dass ich ihr nicht folgen konnte.
»Gibt es für dich irgendetwas Besonderes? Gibt es etwas, das du nie verlieren möchtest?«
»Dich, Tante.«
Sie lächelte. »Das ist sehr nett, Hayat.« Sie strich mir über die Stirn. »Du bist gern bei mir … in diesem Augenblick …«
»Ja, sehr gern, Tante. Sehr gern.«
»Du willst nicht, dass es aufhört, richtig?«
»Nie.«
»Genau so ist es auch bei dem Derwisch. Er spürt diese Liebe zu Allah. Er will nicht, dass sie jemals aufhört. So wie bei dir und mir. Aber alles andere, das Fernsehen, die Schule, alles, was im Leben sonst so ansteht, würde dich von mir trennen, richtig?«
Ich nickte.
»Und deswegen lässt der Derwisch das alles los, das Fernsehen, die Schule, seine alltäglichen Pflichten. Alles, was ihn von der Liebe zu Allah abhält.«
»Ich verstehe, Tante.«
»In dieser Geschichte gibt der Derwisch alles auf, und trotzdem ist er traurig und verwirrt. Denn er hat immer noch das Gefühl, dass er sich an etwas klammert, was ihn von der Liebe zu Gott trennt.«
»Was?«
»Das weiß er nicht. Und er stellt sich diese Frage immer und immer wieder. Jahrelang zieht er herum und sucht und betet um eine Antwort. Aber er kommt nicht drauf, was es sein könnte …
Dann, eines Tages, verliert er alle Hoffnung. Nach seiner langen Suche ist er müde. Erschöpft setzt er sich an den Straßenrand und weiß nicht, was er jetzt noch tun soll …«
Noch immer sah ich Gervitz vor mir, wie er sich geschlagen gab und in abgerissener Kleidung am Rand der verlassenen Straße saß.
»Und während er dort sitzt, kommen zwei Männer die Straße entlang. Sie essen Orangen. Sie kommen näher und sehen den alten Derwisch, und einer von ihnen sagt: ›Was für ein schmutziger Alter.‹ Und der andere sagt: ›Schau, wie er unsere Orangen anstarrt. So gierig!‹ Sie lachen. Und als sie am Derwisch vorbeikommen, werfen sie ihm die Orangenschalen hin: ›Hier, Alter, iss die Schalen, wenn du Hunger hast!‹
Nun, Behta , wenn das dir oder mir widerfahren würde, würden wir wütend werden. Wir würden aufspringen, ihnen etwas hinterherrufen oder ihnen die Orangenschalen nachwerfen. Aber nicht dieser Derwisch. Er wird nicht wütend. Stattdessen erhebt er sich und umarmt die beiden Männer.
›Danke, Brüder! Danke, dass ihr mir die Antwort gegeben habt!‹ Die Männer sind verwirrt. ›Welche Antwort?‹, fragen sie. ›Die Antwort, auf die ich schon mein ganzes Leben warte!‹, sagt der Derwisch.«
Mina hielt inne.
»Ich weiß, Behta , das ist eine schwierige Geschichte. Aber ich denke, du kannst sie verstehen …
Was der Derwisch dort auf der Straße gefunden hat, ist wahre Demut. Ihm ist bewusst geworden, dass er weder besser noch schlechter ist als der Boden … der Boden, der alle weggeworfenen Orangenschalen der Welt auffängt. Im Grunde ist ihm klar geworden, dass er nichts anderes ist als dieser Boden, nichts anderes als die Orangenschalen, als die Männer oder alles andere, das von Allah erschaffen wurde.
Was hat ihm davor im Weg gestanden? Er hat geglaubt, er wäre anders, etwas Besonderes. Aber jetzt erkennt er, dass er nicht anders ist. Er und Allah und alles, was Allah erschaffen hat, das alles ist eins.«
Ich verstand damals nicht, was sie mir zu sagen versuchte. Aber ich habe es nie vergessen.
Am Samstagabend, eine Stunde vor dem Abendessen, klingelte es an der Tür. Mutter kam aus der Küche geeilt.
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