Himmelssucher - Roman
Eile in Richtung Haus auf den Weg. »Weiß Gott, was sie jetzt wieder will«, grummelte er, als er an mir vorbeiging. »Kommst du auch?«
Im Wohnzimmer lag Nathan im Armsessel ausgestreckt und hielt sich eine Hand über ein Auge. Mina war über ihn gebeugt, ihr Gesicht glühte fast so rot wie der leuchtend scharlachrote Fleck am Saum ihres cremefarbenen Schals.
»Was zum Teufel ist denn mit dir passiert?«, fragte Vater.
»Dr. Wolfsohn hat Imran ein Spielzeugauto geschenkt …«
»Muneer, bitte …«, kam es von Nathan.
»Tut mir leid, Nathan … und Imran hat es ihm ins Gesicht geschleudert.«
»Er hat mich am Auge getroffen«, sagte Nathan ganz ruhig. »Aber ich glaube, es ist nichts passiert.«
»Warum hängst du dann zum Teufel noch mal so rum? Als würdest du im Sterben liegen …«
»Ich liege nicht im Sterben , Naveed.«
»Wo ist das Spielzeugauto?«, fragte Vater Mina.
Sie reichte Vater einen kleinen roten Matchbox-Rennwagen. »Nate hat es ihm als Geschenk mitgebracht.«
Vater ließ sich auf der Armlehne nieder und beugte sich über Nathan. »Lass mal sehen«, sagte er und schob Nathans Hand weg. Er hatte das Auge geschlossen, aus dem Augenwinkel tröpfelte ein stetes Blutrinnsal.
»Aufmachen!« Vater stocherte etwas herum. Nathan riss das Auge weit auf. »Kannst du sehen?«
»Kein Problem.«
»Kannst du das Auge bewegen?«
Nathan ließ den Augapfel kreisen. Er zwinkerte einige Male. »Ja, kein Problem«, sagte er.
Vater packte Nathans Kopf, drehte ihn zu sich heran und musterte den Schnitt. »Glück gehabt«, sagte er. »Das war haarscharf. Ein schlimmer Schnitt, das Auge ist aber in Ordnung.«
»Gott sei Dank«, sagte Mutter und seufzte erleichtert. »Seinem Auge ist also nichts passiert?«
»Nein. Säubere die Wunde und mach ein Heftpflaster drauf.« Vater erhob sich. »Wo ist der Junge?«, fragte er Mina.
»Oben.«
»Ich werde ein Wörtchen mit ihm reden«, sagte Vater und ging.
Mutter starrte mich böse an. »Wenn du den Jungen noch mal so reizt, wirst du von mir was zu hören bekommen!«
Ich verzog mich ohne weiteren Kommentar.
Oben in meinem Zimmer griff ich mir den Koran und schlug schmollend die Sure auf, die ich angefangen hatte zu lernen:
Der Anbeginn der letzten Stunde!
Was ist der Anbeginn der letzten Stunde?
Und wer lehrt dich begreifen, was der Anbeginn
der letzten Stunde ist?
Es ist der Tag, an dem die Menschen wie verstreute
Motten sind,
Und die Berge wie bunte gekämmte Wolle.
Der nun, dessen Waagschale mit guten Werken
schwer beladen ist,
Der wird ein gutes Leben führen.
Während jener, dessen Waagschale für zu leicht befunden,
Vom Abgrund der Hölle verschlungen wird.
Und was lehrt dich begreifen, was der Abgrund
der Hölle ist?
Er ist das glühendste Feuer.
Immer wieder las ich mir die Zeilen vor. Die Worte beruhigten mich. Das, was sich unten abspielte, verblasste. Wie banal das alles im Licht von Gottes Feuer war. Ich musste an den Himmel draußen denken, den ich gesehen hatte, an dessen glühende, majestätische Farben. Angst und Ehrfurcht ließen mich erschauern. Und es tat gut, daran erinnert worden zu sein, was einzig und allein zählte:
Wenn andere es nicht wissen wollen, mögen sie brennen. Du aber vergiss niemals.
7
DIE JUDEN UND WIR
D as Abendessen an jenem Tag gestaltete sich schwierig. Die Stimmung am Tisch war gedrückt. Mina war in sich gekehrt, und Nathan tat alles, um sie aufzuheitern und ins Gespräch einzubinden. Er sah ziemlich albern aus, so wie er da saß: An seinem linken Auge klebte ein glänzendes Heftpflaster, das beim Reden und Kauen ständig zuckte. Mina war sichtlich bemüht, sich für die ihr entgegengebrachte Aufmerksamkeit erkenntlich zu zeigen, in Gedanken aber war sie ganz woanders. Irgendwann legte Vater seine übliche Platte auf, machte sich über Nathan lustig und versuchte uns aufzuheitern, aber selbst seine Ausgelassenheit – er war immer der Erste, der (schallend) über die eigenen Witze lachte – schien in der bleiernen Stimmung zu versickern.
Nach dem Essen zogen sich Mina und Nathan ins Wohnzimmer zurück. Kaum hatten sie sich niedergelassen, bekam Imran einen seiner Anfälle. Er schrie sich die Lunge aus dem Leib und plärrte nach seiner Mutter. Mina hielt es nicht lange aus, bevor sie nach oben ging, um ihn zu beruhigen. Eine halbe Stunde später kam sie zurück und sagte allen Gute Nacht. Sie begleitete Nathan nach draußen. Ich verzog mich in mein Zimmer und beobachtete von dort, wie sie über die Einfahrt
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