Himmelssucher - Roman
Römer und ein Sikh. Der Polizeichef beschließt, jedem Kandidaten eine Frage zu stellen, immer die gleiche Frage, damit er nach den jeweiligen Antworten eine Entscheidung treffen kann. Sie kommen also, einer nach dem anderen, in sein Büro. Als Erstes der Jude. Der Polizeichef bittet ihn, Platz zu nehmen. ›Wer hat Jesus Christus umgebracht?‹ Der Jude antwortet: ›Die Römer haben ihn getötet.‹ Der Polizeichef dankt ihm, und nach dem Juden kommt der Römer. Der Polizeichef stellt ihm die gleiche Frage: ›Wer hat Jesus Christus umgebracht?‹ Der Römer antwortet: ›Die Juden.‹ ›Danke‹, sagt der Polizeichef. Schließlich kommt der Sikh, und der Polizeichef stellt auch ihm die Frage. Statt darauf zu antworten, fragt der Sikh: ›Meinen Sie, ich könnte über die Frage erst etwas nachdenken?‹ Der Polizeichef sagt, kein Problem, er solle am nächsten Tag mit der Antwort wiederkommen. Als der Sikh am Abend nach Hause kommt, fragt ihn seine Frau, wie das Bewerbungsgespräch gelaufen ist. ›Großartig, Liebling‹, sagt er zu ihr. ›Ich habe die Stelle, und ich ermittle auch schon in einem Mordfall!‹«
»Haaaah!«, wieherte Nathan und stieß ein herzhaftes Lachen aus. Auch Mutter lachte. Vater kicherte und genoss seinen Erfolg zumindest bei diesen beiden. Ich lachte nicht – ich hatte ihn nicht verstanden –, und auch Mina lachte nicht. Sie wirkte mürrisch, ihre Stimmung hatte sich völlig verändert. Sie sah Nathan an, als würde sie ihn nicht mehr kennen.
»Die Juden haben Christus nicht umgebracht, Naveed«, sagte sie ernst.
»Es ist ein Witz«, erwiderte Vater.
Mina tat es mit einem Schulterzucken ab. Nathans Wangen waren vom Lachen gerötet. »Da bin ich mir nicht so sicher, Meen«, sagte er. »Anscheinend hatten wir die Möglichkeit, ihn zu retten, haben es aber nicht getan und uns stattdessen für Barabbas entschieden. Ob das aber gleich darauf hinausläuft, dass wir ihn umgebracht haben, da bin ich mir nicht sicher.«
»Barabbas?«, fragte Mina leicht gereizt. »Den kenne ich nicht.«
»Der andere Gefangene. Pontius Pilatus hat die Juden gefragt, welcher Gefangene freigelassen werden soll. Und sie haben sich für Barabbas entschieden. Was hieß, dass Jesus gekreuzigt wurde.«
Mina hatte ganz offensichtlich nicht die geringste Ahnung, wovon er sprach.
»Will noch jemand etwas essen?«, fragte Mutter. Niemand reagierte darauf.
Nathan wandte sich an Vater. »Aber was die polizeilichen Ermittlungen anbelangt, Naveed, da hatte mein Glaubensgenosse schon recht. Es waren die Römer, die ganz eindeutig die Tat begangen haben.«
»Nur um es mal klarzustellen«, unterbrach Mina entschieden, »Hazrat Isa ist niemals gestorben. Das Ganze ist ein Missverständnis.«
»Isa?«, fragte Nathan.
»So nennen wir Jesus. Ich dachte, das wüsstest du mittlerweile!«
»Er ist niemals gestorben? Was soll das heißen?« Ich hatte den Eindruck, Nathan glaubte, dass jetzt sie einen Witz machte.
Ich spürte, wie mein Gesicht vor Zorn rot wurde.
»Als Hazrat Isa in der Gefängniszelle saß«, fuhr Mina fort, »bevor er gekreuzigt werden sollte, hat er zu Allah gebetet und darum gefleht, verschont zu werden. Dann kam der Gefängniswärter und wollte ihn holen, aber es war niemand mehr in der Zelle. Denn Isa war fort. Er ist von Allah errettet worden.«
Verdutzt sah Nathan zu Vater.
Vater zuckte mit den Schultern und sah zum Spielfeld, wo Imran nun in der Nähe der Tribüne Glühwürmchen hinterherjagte.
Mina starrte beide finster an. »Allah hat Isas Gebet erhört und ihn direkt in den Himmel aufgenommen. Und als der Gefängniswärter den anderen mitteilen wollte, dass Isa verschwunden sei, wurde stattdessen er ergriffen. Denn der Wärter sah genauso aus wie Isa: Allah hat nämlich das Gesicht des Wärters verwandelt, so dass die anderen ihn für Isa hielten.«
Sie hatte mir in einer unserer gemeinsamen Abendstunden eine wesentlich längere Version dieser Geschichte erzählt, mitsamt dem Dialog zwischen Isa und Allah, als er in der Gefängniszelle den Herrn angefleht hatte, ihm die Qualen des Todes zu ersparen.
»Deshalb muss er wiederkommen«, sagte Mina entschieden.
» Wer muss wiederkommen?«, fragte Nathan ungläubig.
»Wer wohl?«, entgegnete Mina entrüstet. Ihre Heftigkeit verblüffte mich. »Isa … oder Jesus, wie du ihn nennst. Er muss wiederkommen, weil er nicht gestorben ist. Er muss ein normales Menschenleben leben, er muss sein Leben vollenden und wie ein gewöhnlicher Mensch sterben.
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