Himmelstal
Kellers Fahrradanhänger.
Daniel hatte keine Lust, diesem Mann allein im Morgengrauen zu begegnen. Er verließ schnell die Straße und lief über eine mit Raureif überzogene Wiese zu einer alten Scheune, deren Dach eingefallen war. Er blieb reglos im Schutz der Scheunenwand stehen und schaute zur Stra
ßenbiegung. Er hatte schwache Fußspuren im Raureif hinterlassen, er hoffte, dass Keller sie in der Dämmerung nicht bemerkte.
Der quietschende Gesang durchschnitt die Stille, und dann tauchte der Mann hinter der Biegung auf. Daniel hielt den Atem an. Auf dem Anhänger stand die gleiche Holzkiste wie beim letzten Mal. Adrian Keller folgte der Straße noch fünfzig Meter nach Westen, dann blieb er stehen. Er kletterte vom Rad, zündete eine Zigarette an und setzte sich auf den Rand des Anhängers.
Die schneebedeckten Gipfel im Osten glühten rosa, gleichzeitig leuchtete ein großer Stern am dunklen Teil des Himmels. Weit entfernt war das Motorengeräusch des im Kreis fahrenden Patrouillenautos zu hören.
Keller rauchte ohne Eile seine Zigarette, dann öffnete er die Kiste. Flügel flatterten, er machte einige Schritte rückwärts. Daniel schaute hinter der Scheunenwand hervor. Adrian Keller stand auf dem frostigen Gras und hatte den Falken auf dem Arm. Hinter ihm stieg der Nebel wie Rauch aus dem Fluss.
Eine kleine dunkle Wolke zog rasch von Westen her, und als sie näher kam, sah Daniel, dass die Wolke eine Schar Tauben war. Schnell befreite der Mann den Falken von seiner Haube und ließ ihn los. Im gleichen Moment löste sich die Taubenschar auf, und die Jagd hoch oben in der glasigen Luft begann. Daniel schützte mit der Hand die Augen vor der aufgehenden Sonne und versuchte, dem kreisenden Flug des Falken zu folgen.
Ein weiterer Falke schoss vom Talboden in die Höhe, sie jagten jetzt zu zweit. Einer kehrte bald zu seinem Herrn zurück, der nahm ihm schnell die Taube aus den Klauen und ließ ihn sofort wieder aufsteigen, ohne ihm die Beute zu überlassen.
Adrian Keller beugte sich über die Taube und schien sie
von etwas zu befreien, das er in seine Tasche steckte, die Taube stopfte er in einen Sack. Der andere Falke war bereits im Anflug, der Mann nahm auch dessen Beute und machte sich an ihr zu schaffen, während der Falke wieder davonflog. Die Tauben waren nicht mehr zu sehen, aber der Falke verschwand hinter dem Bergkamm, und als er zurückkam, hatte er eine weitere Taube in den Klauen.
Zum Schluss kamen die Falken ohne Beute zurück, und Keller leerte den Sack aus und ließ die Falken in die Tauben hacken, während er sich eine neue Zigarette anzündete.
Dann setzte er den Falken wieder ihre Hauben auf, steckte sie in die Kiste und radelte den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.
Daniel wartete noch eine ganze Weile, bis das Quietschen ganz aufgehört hatte. Er kam hinter der Scheune hervor und ging zu dem Platz, wo der Mann gestanden hatte. Die halb gefressenen Tauben lagen in Haufen von blutigen Federn auf dem Boden.
Daniel ging in die Hocke und untersuchte die zerfetzten Vogelkörper. Ein Fuß mit gespreizten Klauen lag ein Stück abseits. Um den Fuß war etwas Schwarzes gewickelt, es sah aus wie Isolierband.
Mit einem Stöckchen stocherte Daniel in der blutigen Masse. Alle Tauben hatten Reste von Klebstoff oder fest gewickeltem Klebeband um den Fuß.
Plötzlich wusste Daniel, wie es vor sich ging: Diese Tauben wurden von jemandem draußen präpariert und bei Sonnenaufgang ins Tal geschickt, dann ließ Adrian Keller seine Falken frei. Die Falken erbeuteten die Tauben, und Adrian Keller nahm die an den Tauben befestigte Fracht an sich. Die Tauben, die nicht erwischt wurden, flogen in ihren Taubenschlag zurück, wie Tauben das eben so machen, und die teure Fracht ging zurück an den Absender.
Nichts ging verloren. Man musste nur nachzählen, wie viele Tauben fehlten, und die Rechnung schicken.
Daniel ging weiter Richtung Klinik. Am Hauptgebäude kam er an den Patrouillen vorbei, sie waren auf dem Weg zu den Elektroautos. Sie trugen Mäntel aus blauer Wolle über ihren normalen Uniformen und redeten und lachten.
Er schloss seine Hüttentür auf und setzte sich, um auf die Patrouille zu warten. Dabei überlegte er, was er mit seiner Entdeckung anfangen sollte. Sollte er es Doktor Fischer mitteilen? Sonst jemandem vom Personal? Gereichte es ihm zum Vorteil? Er würde sich mit Corinne besprechen.
Aber jetzt war er plötzlich sehr müde. Sobald die Patrouille durch war, würde er sich ein
Weitere Kostenlose Bücher