Himmelstal
graublaue Lampen über den hohen Wangenknochen.
Daniel stürzte zur Tür und lief hinaus. Das Schreien war in ein gepresstes Jammern übergegangen. Wo war das Kind?
In einem Gebüsch schaukelte ein Zweig und ließ gelbe Blätter herabregnen.
Wie verhext starrte Daniel auf den zappelnden kleinen Körper, der im Blattwerk baumelte. Ein Hase. Er hatte sich in einer von Adrian Kellers Schlingen verfangen und war von ihr erdrosselt worden.
Keller kam aus dem Haus, das Messer in der Hand, und ganz ruhig, als wäre das von Anfang an sein Plan gewesen, hob er es hoch und schnitt den Hasen vom Zweig.
Er ging zum Gehege der Falken und machte die Tür auf. Die Falken blieben auf ihren entrindeten Bäumen sitzen. Sie duckten sich und ruckten mit dem Kopf.
Keller warf den Hasen in einer Drehbewegung auf den Hof. Die Falken flogen sofort heraus, stürzten sich auf die Beute und zerrten und rissen daran. Ein paar Falken schauten ihnen vom Dach der Voliere aus zu. Vielleicht
waren sie noch satt von den Tauben, die sie zum Frühstück bekommen hatten.
Keller schaute zu, wie die Falken fraßen.
»Also nur ein Hase«, sagte Daniel zu sich und hob das Fahrrad auf.
Er zitterte immer noch, seine Beine waren weich wie Gummi. Keller schien ihn nicht zu beachten.
Als er wieder auf der Straße war, holte er das Handy aus der Tasche und versuchte noch einmal, Max anzurufen.
Keine Antwort. Aber er meinte, irgendwo in der Nähe eine schwache Melodie zu hören. Aus dem Haus. Oder vom Grundstück. Als er auflegte, verstummte auch die Melodie. Er rief noch einmal an, drückte das Handy an den Körper, um das Klingeln zu dämpfen, und lauschte nach dem anderen Signal, das wieder zu hören war, kaum dass er angerufen hatte. Obwohl es so schwach war, konnte er die Melodie erkennen: Schubert. Forellenquintett.
Das Handy von Max war also ganz in der Nähe. Aber aus irgendeinem Grund antwortete er nicht.
Daniel schickte eine SMS : Hab dich bei Keller nicht gesehen. Radle zur Hütte.
Das klare Signal für den Empfang der Nachricht war noch deutlicher zu hören als die Schubertmelodie. Jetzt hörte er es ganz deutlich: Das Signal kam nicht aus dem Haus, sondern aus dem Wald.
Statt zum Haus zurückzukehren, legte er das Rad in den Graben und ging die Straße zurück in den Wald.
»Max?«, rief er leise.
Er bewegte sich langsam und vorsichtig zwischen den Bäumen, den Blick auf die Füße gerichtet. Es war gefährlich, hier zu gehen, überall auf dem Boden waren Fallen und Schlingen.
Er nahm die Falken als dunkle Schatten über dem Wald wahr. Einer tauchte hinab ins Laubwerk, verschwand zwi
schen raschelnden Blättern, stieg dann wieder in den Himmel, als hätte er ein Bad im Grünen genommen.
Er blieb stehen, schaute sich um und rief noch einmal.
Er hörte nur das schwache Rauschen des Windes und die kurzen, merkwürdigen Schreie der Falken über den Baumkronen. Sie waren jetzt direkt über ihm. Er schaute hinauf ins Laub, wo die Falken ihre Sturzflüge machten.
Und jetzt sah er, was ihr Interesse geweckt hatte. Hoch oben, hinter einem Vorhang von Blättern verborgen, baumelte ein Männerkörper in Jeans und kariertem Hemd.
Der da oben hing, hatte den gleichen Fehler gemacht wie der Hase.
Mit klopfendem Herzen ging Daniel näher. Schritt für Schritt untersuchte er den Boden, ehe er den Fuß aufsetzte. Als er am Baum war, hob er den Blick, um das Gesicht des erdrosselten Mannes zu sehen. Aber da, wo das Gesicht sein sollte, war nur ein Klumpen dunkles Fleisch. Daniel konnte nicht einmal ahnen, wie die Person ausgesehen hatte, als sie noch lebte.
Er holte das Handy heraus und drückte mit zitternden Fingern die Nummer, von der aus Max ihn angerufen hatte. Er zögerte, warf einen Blick hinauf zu dem baumelnden Körper, wo ein Falke gerade eine Krähe angriff. Mit einem Schaudern drückte er den Anrufknopf und wartete.
Im nächsten Moment klangen Schuberts spritzige Töne durch den Wald.
Aber sie kamen nicht, wie Daniel befürchtet hatte, vom Toten im Baum.
Er drehte sich um.
Dort, mitten im Wald, auf einem Teppich aus verwelkten Blättern, stand Karl Fischer und betrachtete mit gerunzelten Augenbrauen das Display seines Mobiltelefons. Er war wie für eine Wanderung gekleidet, kurze Jacke, grüner Hut und kräftige Schuhe.
»Na so was, das bist du ja höchstpersönlich«, sagte er und schaute auf. »Was für ein Zufall. Da brauchen wir das ja nicht mehr.«
Er brachte das Telefon zum Schweigen und steckte es in die Innentasche der
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