Himmelstal
wählen, die mir nützten; und zweitens sie in größter Heimlichkeit auszuführen. Aber du trinkst ja gar nichts von deinem Tee. Schmeckt er dir nicht? Der Geschmack ist etwas eigen, das gebe ich zu, aber wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, will man keinen anderen mehr trinken.«
»Er schmeckt mir«, sagte Daniel und trank folgsam ein paar große Schlucke.
Karl Fischer sah zufrieden aus.
Er schmeckte etwas eigenartig. Irgendwie nach Weihnachten – Zimt, Nelke, Kardamom – und nach etwas, trocken und bitter, das er nicht bestimmen konnte.
Daniel wusste nicht, was er von Karl Fischer halten sollte. Meinte er wirklich, was er sagte, oder war sein erstaunliches Bekenntnis nur Ausdruck seines zynischen Berufshumors? Er war jedenfalls nicht der Richtige für ein solches Gespräch, und Daniel beschloss, den Besuch so bald wie möglich zu beenden.
Aber der Doktor lehnte sich zurück und fuhr fort:
»Als kleines Kind bereitete ich meinen Eltern große Sorgen, aber als ich in die Schule kam, war ich ihr ganzer
Stolz. Man sagte, ich sei ›gereift‹. Ich war sehr intelligent, habe zweimal eine Klasse übersprungen, und neben der Schule habe ich eigene Forschungen betrieben, auf einem Niveau, das alle überraschte. Ich studierte Mathematik, Biologie und Chemie, aber am meisten interessierte mich die Medizin. Wie der Mensch konstruiert ist. Das Skelett, das uns aufrecht hält. Das Herz, das Leben in uns pumpt. Das Gehirn, das Gedanken produziert, Erinnerungen und Träume, und diese irgendwo in den Windungen versteckt. Das faszinierte mich enorm. Ich glaube, ich habe in alldem die Antwort auf die Frage gesucht, wer ich bin. Denn mir war vollkommen klar, dass ich nicht wie die anderen war.«
Mit zunehmender Verblüffung hörte Daniel seinem Arzt zu. Er wusste nicht, was er glauben sollte.
»Mitgefühl, Liebe und Rücksicht waren fremde Gefühle für mich. Ich hörte, dass ständig darüber geredet wurde. Als Begriffe waren sie mir so vertraut wie der Dschungel in Afrika. Ich wusste, wie es da aussieht, aber ich war, gewissermaßen, noch nie dort gewesen«, fuhr Doktor Fischer ruhig fort. »Und mir wurde klar, dass ich auch nie dort hinkommen würde. Gleichzeitig erkannte ich, dass diese merkwürdigen Fähigkeiten von allen anderen als selbstverständlich angesehen wurden. Wie ein Analphabet entwickelte ich alle möglichen Techniken, um meinen Mangel zu vertuschen. Ich lernte, das Verhalten der anderen Menschen zu studieren und nachzuahmen. Ich lernte, wann man weinen und trösten oder wann man sagen musste, dass man jemanden liebt. In den frühen Jugendjahren fanden mich die anderen etwas wunderlich und ungehobelt, aber das gab sich mit der Zeit. Als ich Medizin studierte, sagten die anderen Studenten, ich sei spontan, charmant und sogar empfindsam. Du schaust mich so merkwürdig an, Daniel. Kommt dir das bekannt vor?«
Daniel schüttelte erstaunt den Kopf.
»Ich habe noch nie so etwas gehört.«
Karl Fischer lächelte.
»Und wenn es dir bekannt vorkäme, würdest du es nicht zugeben, was? Das gibt man zuallerletzt zu. Das ist das große Geheimnis. Dass man kein richtiger Mensch ist .«
»Sie scheinen trotzdem Erfolg im Leben zu haben«, bemerkte Daniel.
»Ja. Ich habe eine glänzende Karriere gemacht. Ohne Gefühle hat man so viel mehr Möglichkeiten, nicht wahr? Man kann Forschungsergebnisse fälschen. Konkurrenten aus dem Weg räumen. Einer ertrinkt, ein anderer fällt bei einer feuchtfröhlichen Feier vom Balkon, ein nie aufgeklärter Raubmord nach einem langen Abend während eines Kongresses. Gar nicht zu reden von den Medikamenten, zu denen ein Arzt Zugang hat und die in hohen Dosen zu bedauerlichen Selbstmorden führen.«
Daniel keuchte, aber bevor er etwas sagen konnte, beugte Karl Fischer sich vor und legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter.
»Diese Fälle habe ich mir nur ausgedacht, mein Freund. Möglichkeiten. Fakten bekommst du von mir nicht.«
Der Doktor schwieg und streckte sich nach seiner Tasse.
Daniel bemerkte auf einmal einen Ventilator, der irgendwo brummte. Der Gedanke an frische, hereinströmende Alpenluft beruhigte ihn.
Fischer nippte an seinem Tee und fuhr leise fort.
»In meiner Jugend habe ich einige schlimme Verbrechen begangen. Gewalt- und Eigentumsdelikte. Ich wurde nie gefasst. Als ich älter wurde, machte es mir keinen Spaß mehr. Das flüchtige Gefühl der Befriedigung war das Risiko nicht mehr wert. Da habe ich das Thema gefunden, das
fortan all meine Zeit und
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