Himmelstal
Sachen. In Kellers Haus sind viele Dinge passiert, die für mich von großem Interesse sind. Und manchmal überlässt mir Keller auch sein Wohnzimmer für Studienzwecke. Der Spiegel dort ist einseitig durchsichtig, und man kann unbemerkt beobachten, was im Raum passiert. Aufgrund meiner Beobachtungen bin ich zu einzigartigen Forschungsberichten gekommen. Ich konnte sehen, was Menschen anderen Menschen anzutun imstande sind. Ich kann diese Berichte natürlich noch nicht publizieren.«
Daniel war wütend, und er musste sich beherrschen, um sich nicht auf Karl Fischer zu stürzen.
»Sie haben mich also durch den Spiegel gesehen ?«
»Ich saß in der ersten Reihe. Aber leider hast du die Bühne früher als erwartet verlassen. Ihr wurdet von einem Hasen abgelenkt, nicht wahr? Und du hast gedacht, es sei ein Kind.«
Er lachte laut vor sich hin, hielt jedoch plötzlich inne:
»Ein Kind, genau! Du wirst ja Vater. Aber du hast noch nicht gesagt, wer die Mutter ist.«
Er beugte sich vor und blinzelte erwartungsvoll.
Daniel wartete mit der Antwort. Instinktiv spürte er, dass er die Beziehung zu Corinne für sich behalten sollte. Vielleicht um sie zu schützen. Oder vielleicht, weil es das Einzige war, was Doktor Fischer nicht über ihn wusste. Er wollte diese Karte noch eine Weile zurückhalten.
»Das wird sich schon zeigen.«
»Hm. Das ist meistens der Fall«, sagte Fischer nachdenklich.
»Aber wenn sie dich hinters Licht führt? Sie ist vielleicht gar nicht schwanger. Hast du einen Schwangerschaftstest gesehen?«
Daniel schwieg. Und wenn der Doktor recht hatte?
»Lass mich raten, wer es ist.«
Karl Fischer lehnte den Kopf an die Rückenlehne des Sessels, schloss die Augen und tat so, als denke er nach.
»Samantha?«, schlug er dann vor.
Daniel schwieg immer noch. Fischer deutete es als Zustimmung.
»Das habe ich mir gedacht«, grunzte er zufrieden. »Ich sollte dir vielleicht sagen, dass Samantha ungefähr zehn Mal pro Jahr schwanger ist. Sie ist natürlich genauso fruchtbar wie ein Ochse, aber in ihrer Phantasie wird sie ständig befruchtet, und damit das Ganze auch glaubhaft wirkt, sorgt sie für ein abwechslungsreiches Sexualleben. Weißt du, was sie erlebt hat, bevor sie ins Tal kam?«
»Nein.«
»Eine ziemlich tragische Geschichte. Mit sechzehn riss sie von zu Hause aus, mit ihrem Freund, der erheblich älter war, gewalttätig und drogenabhängig. Samantha war schwanger, wollte jedoch keine Abtreibung machen lassen. Im achten Monat trat ihr Freund das Baby in ihrem Bauch tot, und sie musste ein totes Kind gebären. Im Zusammenhang mit der Entbindung geriet sie in eine akute Psychose und kam in die Psychiatrie, wo man sie mit Medikamenten vollpumpte und dann ohne eigentliche Behandlung entließ. Sie zog wieder zu ihren Eltern, brach den Kontakt zu ihrem Freund ab und arbeitete als Hilfsschwester auf einer Kinderkrankenstation. Sie war verrückt nach Säuglingen und kümmerte sich rund um die Uhr und pausenlos um sie. Dann gab es einige Fälle von plötzlichem Kindstod. Und dann noch ein paar. Immer auf der Station von Samantha. Das Personal wurde heimlich überwacht und Samantha entlarvt. Das erste hatte sie mit einem Kissen erstickt. Den nächsten hat sie etwas ins Fläschchen getan. Hat dir das niemand erzählt?«
»Doch, jetzt, wo Sie es sagen«, murmelte Daniel. »Aber ich habe nie richtig verstanden, dass …«
»Man will es nicht glauben, nicht wahr? Samantha ist ja eine anziehende junge Frau. Im Gefängnis, in das sie dann kam, flirtete sie mit den männlichen Bewachern und kletterte ihnen fast auf den Schoß. Für einen war die Versuchung offenbar zu groß, denn obwohl sie offiziell nur Besuch von ihrer Mutter gehabt hatte, wurde sie schwanger. Sie wurde zum Abbruch gezwungen. Sie leistete gewaltsamen Widerstand und wurde narkotisiert in die Abtreibungsklinik gebracht. Nach einiger Zeit war sie wieder schwanger. Dieses Mal gelang es ihr, die Schwangerschaft so lange zu verbergen, bis es zu spät für eine Abtreibung war. Sie bekam das Kind unter strenger Bewachung, aber direkt nach der Geburt wurde ihr das Kind weggenommen. Sie drehte vollkommen durch. Sie fand eine Schere, stach einer Schwester in den Hals, einer hochschwangeren Frau in den Bauch und wurde kurz darauf nach Himmelstal gebracht. Meine psychodynamisch ausgerichteten Kollegen betrachteten ihre Nymphomanie als Sehnsucht nach Befruchtung. Aber sie ist natürlich sterilisiert, genau wie alle anderen. An deiner Stelle würde ich
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