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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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geschrieben werde, wird es eng. Deswegen benehme ich mich so normal wie nur möglich. Ich halte Abstand zu den schlimmsten Deppen, flirte mit dem weiblichen Personal und plaudere angeregt mit den Ärzten. Hinter meinem Rücken habe ich sie schon sagen hören: ›Was macht der denn noch hier? Er wirkt ja so gesund wie ein Fisch im Wasser.‹ Es besteht natürlich die Gefahr, dass sie einen hierbehalten, weil sie auf das Geld scharf sind. Ich habe zu meiner Ärztin, Gisela Obermann, gesagt, dass meine finanziellen Möglichkeiten nahezu erschöpft sind und ich ihr dankbar wäre, wenn sie mich bald entlassen würde.«
    Sie gingen durch den Park. Die Luft war kühl, und es roch nach dem Tannenwald weiter unten. Vom Tennisplatz hörte man das Aufschlagen der Bälle.
    »Was für eine Behandlung bekommst du denn?«, fragte Daniel.
    »Gar keine.«
    »Aber deine üblichen Medikamente nimmst du doch?«
    Ein Mann kam ihnen entgegen. Er sah aus, als wolle er mit ihnen sprechen, aber Max legte den Arm um Daniels Schultern und führte ihn schnell auf einen anderen Weg. 
    »Als ich herkam, setzte Gisela Obermann alle Medikamente ab. Sie wollte sehen, wie ich ohne Medikamente bin. Sie will immer wissen, wie die Patienten ohne Medikamente sind.«
    Er blieb vor Daniel stehen, legte ihm eine Hand auf die Schulter und fuhr in heftigem Ton fort, jede Silbe sollte bei ihm ankommen:
    »Einen unter Medikamenten stehenden Patienten zu untersuchen ist für einen Psychiater ungefähr so, als würde ein Allgemeinmediziner einen Patienten in Kleidern untersuchen. Der Patient könnte einen Hautausschlag oder einen Tumor haben, ohne dass der Arzt etwas merkt. Die wichtigste Aufgabe der Psychopharmaka ist es, zu verbergen . Sie heilen nicht, töten auch nicht wie Penicillin bösartige Bakterien. Sie legen sich nur wie Kleider schützend über die Krankheit.«
    Daniel nickte zustimmend und trat einen Schritt zurück, um den Speicheltropfen auszuweichen, die Max in seinem Eifer versprühte.
    »Oder wie eine Sprengmatte, du weißt schon«, fuhr der Bruder fort. »Sie dämpfen eine Explosion und sorgen dafür, dass Steine und Felsbrocken nicht umherfliegen und Schaden anrichten. Aber …«
    Max schob den Kopf vor, schaute Daniel streng an und senkte die Stimme zu einem intensiven Flüstern:
    »Was für Schäden richten diese unterdrückten Explosionen im Innern an!«
    Er machte eine Pause, schaute Daniel in die Augen und ging dann weiter.
    Ein junger Mann in Trainingskleidung joggte auf sie zu, sie mussten einen Schritt beiseitetreten, um ihn vorbeizulassen.
    »Und wie findet deine Ärztin dich ohne Medikamente?«, fragte Daniel vorsichtig.
    »Gut, nehme ich an. Als wir uns das letzte Mal trafen, sah sie keinen Grund, mir etwas zu verschreiben.«
    »Wirklich?«
    Daniel war erstaunt. Soviel er wusste, nahm Max seit
dem fünfzehnten oder sechzehnten Lebensjahr regelmäßig Medikamente. Die er zeitweise abgesetzt hatte, das stimmte, aber das hatten alle, auch er, als großen Fehler erkannt. Wenn er seine Medikamente regelmäßig nahm, ging es ihm richtig gut, und er konnte ein einigermaßen normales Leben führen. Und jetzt stand er hier und behauptete, seine Ärztin habe alles abgesetzt. Merkwürdig.
    Max lachte.
    »Jetzt guck nicht so erschrocken. Kennst du das Phänomen der Selbstheilung nicht? Darauf vertraut man hier. Auf die heilende Kraft der Natur.«
    Max zeigte auf die Almwiesen, die Glasfassaden und die Berge.
    »Gutes und nahrhaftes Essen. Saubere Luft. Ruhe. Alte bewährte Heilmittel, die in Vergessenheit geraten sind, seit es all die chemischen Präparate gibt. Viele glauben, es braucht unglaublich viel, um einem Menschen zu helfen oder ihn umzuhauen. Als seien wir Riesen aus Stahl, kaum zu stürzen, aber genauso schwer wieder aufzurichten, wenn wir erst einmal umgefallen sind. Aber denk doch nur, was ein bisschen Stress mit einem Menschen machen kann. Viele hier in der Klinik leiden an einem Erschöpfungssyndrom. Kennst du das? Ich sah einmal eine Frau, die immer nur vor sich hin starrte und nicht wusste, wie sie hieß. Man musste sie füttern, weil sie keine Gabel mehr halten konnte. Man hätte annehmen können, dass ein schreckliches Trauma dazu geführt hatte, Kriegserlebnisse, Folter. Aber nein. Nur ganz normaler Stress. Zu große Erwartungen. Druck von allen Seiten. Es ist eigenartig, dass einen das so fertigmachen kann. Aber wir Menschen sind ja eigentlich ziemlich einfach konstruiert. Es braucht nicht viel, und wir fallen

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